Vergangenheitsbewältigung als Meilenstein für die Zukunft

Welchen Beitrag können irakische Intellektuelle für den Aufbau ihres Landes leisten? Darüber diskutierten auf dem Internationalen Literaturfestival in Berlin die Autoren Jabbar Yassin Hussin und Amal al-Jubouri.

Welchen Beitrag können und sollen irakische Schriftsteller und Intellektuelle für den Aufbau ihres Landes leisten? Dies war eine zentrale Frage auf dem Internationalen Literaturfestival in Berlin, auf dem die Autoren Jabbar Yassin Hussin und Amal al-Jubouri diskutierten.

Foto: AP
Freiheitsstatue auf dem Firdaus-Platz in Bagdad

​​Auch wenn die beiden irakischen Schriftsteller Jabbar Yassin Hussin und Amal al-Jubouri ihr Heimatland aus politischen Gründen hatten verlassen müssen, so doch zu sehr unterschiedlichen Zeiten und mit einem unterschiedlichen biographischen Werdegang. Von daher hätte man bei dieser Diskussionsveranstaltung auf dem Literaturfestival eine größere Kontroverse erwartet. Diese blieb allerdings aus. In dem einstündigen Gespräch zwischen Jabbar Yassin Hussin und Amal al-Jubouri ging es natürlich nicht nur um die zukünftige Aufgabe von Intellektuellen im heutigen Irak, sondern auch um deren frühere Rolle während der Diktatur Saddam Husseins.

Gravierende kulturelle und bildungspolitische Mißstände

Der heute 50jährige Jabbar Yassin Hussin, der bereits 1976 vor den Schergen des irakischen Diktators nach Frankreich fliehen musste, konnte im Mai dieses Jahres zum ersten Mal nach 27 Jahren im französischen Exil wieder in den Irak reisen. Im Gespräch zeichnete Hussin ein negatives Bild des derzeitigen kulturellen Lebens im Irak. Keine einzige Buchhandlung habe er in Bagdad gefunden, obwohl die literarischen Jabbar Yassin, 1954 in Bagdad geboren, lebt seit 1976 in Frankreich. Er veröffentlichte einige Prosa- und Lyrikbände auf arabisch und französisch.
Amal Al-Jubouri, 1967 in Bagdad geboren, verließ 1997 den Irak. Sie schrieb dort u.a. in den Zeitungen al-Djumhuriyya und al-Qadisiyya über Umm al-Maarik (Die Mutter aller Schlachten) und in der offiziellen Zeitschrift Asfar. Seit 2000 ist sie Herausgeberin der Lyrik-Zeitschrift Diwan in Berlin. Salons der Metropole auf eine lange Tradition zurückgehen. Das Haus des nationalen Buches sei komplett zerstört worden, so Hussin. Und auch im Bildungswesen seien die Missstände nicht zu übersehen: Über eine Million Kinder gingen nicht mehr in die Schule, berichtet der einstige Dissident.

Die Folgen der Flucht ins innere Exil

Jabbar Yassin Hussin macht dem Großteil der Intellektuellen, die während der Herrschaft Saddam Husseins im Irak geblieben sind, den Vorwurf, dass sie sich in den Dienst der Macht haben stellen lassen, aber heute nicht den Mut haben, ihre Fehler offen zuzugeben. Bei seinem Besuch im Irak habe er einige von ihnen treffen wollen, doch kein einziger sei zu einem Gespräch bereit gewesen. Seine einzige Hoffnung seien die wenigen Intellektuellen, die sich unter Saddam Hussein in eine Art „inneres Exil“ geflüchtet hätten. Sie hätten sich jedoch wegen der Zensur seit Jahrzehnten kein neues literarisches Wissen aneignen können, was einen schnellen kulturellen und intellektuellen Aufbruch derzeit erschwere, so Hussin.

Wirtschaftliche Unabhängigkeit für Iraks Intellektuelle

Ein ganz anderes Bild der kulturellen Situation im Irak zeichnete dagegen die 36jährige Lyrikerin Amal al-Jubouri, die zur Zeit als Kulturattachée des Jemen in Berlin lebt und ebenfalls wenige Wochen nach dem Sturz Saddam Husseins in den Irak gereist war. Voraussetzung für ein Aufleben intellektueller Kultur im Land zwischen Euphrat und Tigris sei jedoch, dass der Wohlstand der Kulturschaffenden gesichert werde, damit sie nicht gezwungen seien, sich erneut in den Dienst undemokratischer Gruppierungen zu stellen. Denn auch ein Intellektueller oder Künstler sei vom Broterwerb abhängig.

„Versteckte Literatur“ als Gegenpol zur Propaganda

Jubouri hat bis 1997 im Irak gelebt, wo sie bereits vor dem Abschluss ihres Anglistikstudiums erste Erfolge als Dichterin feiern konnte und später ein eigenes Kulturprogramm im Fernsehen betreute. Sie räumte ein, dass es im Irak während der Baath-Diktatur „keine Helden“ gab – niemand, der gegen Saddam Hussein das Wort gerichtet hätte. Dennoch sei in den Jahren der Diktatur nicht nur Propagandaliteratur entstanden, sondern auch durchaus wichtige literarische Werke - die sogenannte „versteckte Literatur“, die allerdings noch in der Schublade läge. Und sie selbst habe keine einzige huldigende Zeile zugunsten von Saddam Hussein geschrieben. Doch die Vehemenz, mit der Amal al-Jubouri dies betonte, ohne danach gefragt worden zu sein, ließ im Saal aufhorchen. Und auch die Erregung, mit der sich ein im Berliner Exil lebender irakischer Schriftsteller, zu Wort meldete, und dem Moderator der Veranstaltung unterstellte, er wolle anscheinend „jemanden schützen, weil dieser die Veranstaltung aufgrund der fortgeschrittenen Zeit schließen wollte, ohne Fragen aus dem Publikum zuzulassen“, lässt vermuten, dass in der Diskussion Vieles unausgesprochen blieb.

Sowohl Jabbar Yassin Hussin als auch Amal al-Jubouri machten im Gespräch deutlich, dass es eine ehrliche und umfassende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit geben müsse. Amal al-Jubouri hofft dabei jedoch, dass diese Aufarbeitung den Gerichten überlassen werde. Autoren sollten nicht die Rolle von Richtern zuteil werden. Doch letztlich wird auch eine Diskussion zwischen den irakischen Intellektuellen, die ins Exil gezwungen oder in den Gefängnissen misshandelt wurden, und denjenigen, die sich mit dem System Saddam Husseins arrangiert haben, zwingend notwendig sein und unangenehme Fragen aufwerfen.

Katrin Schneider, © Qantara.de 2003