Istanbul – Hauptstadt der Katzen

Streunende Hunde und Katzen sind ein vertrautes Bild in den Straßen türkischer Städte. Doch Vorfälle aus jüngster Zeit lassen befürchten, dass die Tiere zum Spielball in einem zunehmend polarisierten Land werden. Ayşe Karabat berichtet aus Istanbul.

Von Ayşe Karabat

Katzen sind in Istanbul allgegenwärtig: Sie liegen am Eingang von U-Bahnstationen, auf den Konsolen der Geldautomaten, in Moscheen und vor Märkten. Dort werden sie mit kleinen Portionen gefüttert, die die Istanbuler als "Freundschaftsfutter“ bezeichnen – Futterpäckchen, die die Händler anstelle von Wechselgeld aushändigen.

"Istanbul ist die Hauptstadt der Katzen. Die Istanbuler haben eine besondere Beziehung zu ihren Katzen“, erklärte kürzlich Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu.

Und dann gibt es noch die streunenden Hunde. Sie liegen träge in ganzen Rudeln in Parks oder schlafen in kleinen Hütten, die Menschen in den Stadtvierteln von Istanbul für sie aufstellen. Viele dieser Hunde haben sogar Namen, auch wenn offenbar niemand so recht weiß, woher oder seit wann sie diese Namen haben.

Die Tiere ernähren sich von dem, was in den Küchen der Menschen übrig bleibt. Die Bewohner stellen mit Resten gefüllte Plastikschüsseln oder Joghurtbecher vor ihren Häusern oder in den Straßen ab. Im Rahmen eines kürzlich von der Istanbuler Stadtverwaltung lancierten Projekts sollen jetzt sogar Futterschalen eigens für Tiere fest unter Bäumen auf den Gehwegen installiert werden.

Sogar während des Corona-Lockdown in der Türkei war es den Istanbulern erlaubt, auf die Straße zu gehen und die streunenden Tiere zu füttern. Wenn es im Sommer heiß ist, werden ihre Wassernäpfe regelmäßig neu aufgefüllt.

Ein ungeschriebenes Gesetz

Das Zusammenleben der Istanbuler mit den streunenden Tieren unterliegt einem ungeschriebenen Gesetz: Wer nicht in der Lage ist, ein Tier aufzunehmen – sei es aus kulturellen Gründen oder weil der Platz fehlt – kümmert sich zumindest liebevoll um die tierischen Nachbarn.

Ein Straßenhund schläft im Schaufenster einer Modeboutique, Istanbul (Foto: Ayse Karabat)
In Istanbul tragen streunenden Tiere sogar Namen, auch wenn offenbar niemand so recht weiß, woher oder seit wann sie diese Namen haben. Nach türkischem Recht sind die lokalen Behörden für die Tiere zuständig. Die insgesamt 39 Tierheime in Istanbul haben Platz für etwa 16.700 Tiere. Das reicht aber nicht annähernd aus, um die schätzungsweise 750.000 Katzen und 250.000 Hunde in den Straßen zu versorgen.

In Istanbul gibt es kaum Parks, um Hunde auszuführen. Die meisten Wohnungen sind nicht geräumig genug, um einen Hund zu halten. Vermieter und Nachbarn stören sich zudem am Bellen der Tiere. Auch kulturelle Gründe können gegen Hundehaltung sprechen. Einige Schulen im Islam lehnen es ab, Hunde in Wohnungen zu halten. Manche verpflichten ihre Gläubigen sogar dazu, sich rituell zu reinigen, nachdem sie einen Hund berührt haben.

"Es gibt konservative Kreise, die eine Hundehaltung in der Wohnung ablehnen, da Hunde als unrein gelten. Für Katzen gilt das nicht. Es gibt auch einen Zusammenhang mit der sozioökonomischen Entwicklung und einem Trend zur Individualisierung. Je weniger zwischenmenschliche Beziehungen es gibt, desto mehr wird die entstandene Lücke von einem Tier gefüllt. So ist die türkische Gesellschaft Tieren gegenüber sensibler geworden, insbesondere die gebildete Mittelschicht“, stellt Veysel Bozkurt fest, Professor für Soziologie an der Universität Istanbul und selbst Katzenhalter.

So ist es: Die wachsende Sensibilisierung für Tierrechte spiegelt sich in der großen Zahl der Gruppen und Initiativen, die sich für Tierrechte einsetzen, die überall im Land gegründet werden. Nach Angaben des Innenministeriums widmen sich mehr als 320 zivilgesellschaftliche Organisationen allein in Istanbul den Rechten und dem Wohlergehen der Tiere.

Doch ungeachtet dieser ermutigenden Zahlen und der Tierliebe der Türken sind die Bedingungen für streunende Hunde und Katzen auf den Straßen von Istanbul alles andere als ideal. Die Tiere leiden bisweilen unter Hunger, es fehlt an tierärztlicher Versorgung bei Unfällen mit Autos oder Mofas, außerdem werden die Tiere bisweilen Opfer von Misshandlungen – obwohl dies nach türkischem Recht als Straftat gilt.

Ein moralisches Dilemma

Für Ahmet Kemal Şenpolat, Anwalt und selbst Hundehalter sowie Vorsitzender der Tierschutzorganisation Haytap, ist es ein Dilemma: "Sollen die Tiere auf der Straße leben und leiden, weil wir sie aus Mitgefühl füttern, oder sollten wir sie lieber einschläfern lassen, um ihr Leiden zu beenden?“

Ein Mann streichelt eine Straßenkatze in Istanbul (Foto: Volkan Kisa)
Istanbul und seine Tiere: eine emotionale Beziehung. Das Zusammenleben der Istanbuler mit ihren streunenden Hunden und Katzen unterliegt einem ungeschriebenen Gesetz: Sie kümmern sich um die Tiere, indem sie ihre Nahrung teilen und ihnen mit Essensresten gefüllte Plastikschüsseln oder Joghurtbecher vor Häusern oder in den Straßen abstellen. Im Rahmen eines kürzlich von der Istanbuler Stadtverwaltung lancierten Projekts sollen jetzt sogar auf Gehwegen Futterschalen eigens für Tiere fest installiert werden.

In westlichen Kulturen würden sich die Menschen beim Anblick eines streunenden oder herrenlosen Tieres wünschen, dass es eingefangen wird, weil sie sich außerstande sehen, etwas für das Tier zu tun. Den meisten Tieren droht dann die Einschläferung, wenn sie kein neues Zuhause finden.

Nach türkischem Recht sind die lokalen Behörden für streunende Tiere zuständig. Die insgesamt 39 Tierheime in Istanbul haben aber nur Platz für etwa 16.700 Tiere. Das reicht nicht annähernd aus, um die schätzungsweise 750.000 Katzen und 250.000 Hunde in den Straßen zu versorgen. In der ganzen Türkei gibt es 255 Tierheime mit Platz für etwa 100.000 Tiere. Das ist viel zu wenig, um die schätzungsweise vier Millionen streunenden Katzen und Hunde angemessen unterbringen zu können.

Tierschützer weisen außerdem darauf hin, dass die Heime für eine dauerhafte Unterbringung ungeeignet sind. Das haben auch Anwaltsvereinigungen in mehreren türkischen Städte bereits festgestellt.

Anwälte bezeichnen die Heime als "Todeslager“. Die Tiere würden dort unter Futtermangel leiden und unter extrem beengten und unhygienischen Bedingungen leben. Nach geltendem Recht seien die Behörden verpflichtet, so die Anwälte, eingesammelte Tiere zu sterilisieren und anschließend wieder an den Ausgangsort zurückzubringen.

Die lokalen Behörden machten es sich laut Haytap-Chef Şenpolat allerdings zu einfach, indem sie die Tiere nach Gutdünken aussetzen. Ein ranghoher Mitarbeiter der Stadtverwaltung gestand gegenüber Qantara.de ein, dass sie die Tiere gerne auch in anderen Bezirken aussetzen, damit der eigene Wahlkreis sauber bleibt.

Letzten Herbst ging in den sozialen Medien ein Video viral: Der Musiklehrer Özay Kaya machte seinem Ärger darüber Luft, dass Nachbarn sich bei den Behörden über einen streunenden Hund beschwert hatten. "Dieser Hund gehört uns allen... Wir sind nicht die einzigen Menschen auf dieser Erde“, hört man ihn im Video rufen.

 

— Boji (@boji_ist) December 28, 2021

 

Auf Twitter erntete er dafür Zuspruch, aber auch Kritik: Streunende Tiere seien gefährlich und sollten eingeschläfert werden.

Im Dezember, also nur kurze Zeit später, verletzten zwei Pitbulls ein vierjähriges Kind schwer. Der Vorfall schlug hohe Wellen in den landesweiten Medien und im Netz. Erneut reagierte die Gesellschaft gespalten. Im Zuge der Debatte wies Präsident Erdoğan die örtlichen Behörden an, alle streunenden Hunde von den Straßen zu entfernen und in Tierheimen unterzubringen.

Die Debatte spitzte sich zu, als für den Hund "Boji“ ein neues Zuhause gesucht wurde, nachdem die Behörden versucht hatten, den Hund loszuwerden. Mittlerweile hatte er die Herzen vieler Tierfreunde gewonnen und war sogar in den Schlagzeilen der internationalen Medien präsent.

Bis dato hatte sich die Istanbuler Stadtverwaltung um ihn gekümmert. Er konnte sich frei in der Stadt bewegen. Nachdem er angeblich sein Geschäft in einem Zug verrichtet hatte, wurde er Ziel einer Hetzjagd. Auf Überwachungsaufnahmen der örtlichen Behörden ist zu sehen, wie ein Mann den Hundehaufen auf einem Sitz ablegt.

Wenn man streunende Tiere sterilisiert und wieder in den Straßen aussetzt, so glaubt Şenpolat, wird sich das Problem in einigen Jahren von selbst erledigen. Hunde und Menschen würden wieder friedlich in Istanbul zusammenleben. Die Türkei wäre erneut ein internationales Vorbild.

Wie der Vorfall um den Hund Boji jedoch zeigt, bleibt die Gesellschaft weiter gespalten.

Ayse Karabat

© Qantara.de 2022

Aus dem Englischen übersetzt von Peter Lammers.