Wer ist nicht alles Islamkenner

Vier Jahre lebte die deutsche Journalistin Charlotte Wiedemann in Malaysia. Als sie nach Deutschland zurückkehrte, schlug ihr eine nicht gekannte Islamfeindlichkeit entgegen. Ein persönlicher Bericht

Charlotte Wiedemann, Foto: privat

​​Der Blick stößt sich, die Gedanken stolpern. Bilder schieben sich übereinander, ihre Konturen so zittrig wie bei einem defekten Farbfernseher. Alle tragen Schuhe hier, wie seltsam. Am Bus hängt keine Menschentraube.

Goldene gesittete Herbstlichkeit. Ach, wie der Tropenregen die Palmen
peitschte!

So ist das also: zurückkommen.

("Na, sind Se denn froh, wieder zu Haus zu sein? War doch nix da unten auf die Dauer." Jawollja, froh! Dumme Palmen.)

Vier Jahre weg aus Deutschland, vier Jahre Südostasien. Keine Ewigkeit, bitte sehr, kein Grund sich aufzuspielen!

Aber vier Jahre sind lang genug für eine entscheidende Kleinigkeit: Der Mittelpunkt der Welt wandert. Dieser ganz persönliche Mittelpunkt, den wir - ohne es uns einzugestehen - für die Erd-Achse halten. Weil wir uns von diesem Ort aus die Welt erklären, ihre Zeichen, ihre Symbole deuten, die Farben, die Gebete. Und die Attentate.

Ich war am anderen Ufer. Malaysia, mein Wohnsitz bis vor drei Wochen, ist mehrheitlich muslimisch, liegt also auf der anderen Seite jenes Grabens, der gegenwärtig die Welt in zwei Teile schneidet. Zurück am westlichen Ufer fröstelt es mich: Muslim möchte ich in Deutschland nicht sein.

Die Sprache der Bilder, beim Spiegel beginnend und nicht dort endend. Muslime, das sind anonyme Rücken, eine betende Masse am Boden, gesichtslos. Zeigt sich ein Gesicht, ist es verzerrt in Fanatismus. Oder maskiert.

Ansonsten: drängende Menschenmengen, fliegende Fäuste, bluttriefende Selbstgeißelung. Kindersoldaten.

Sogar Mitgefühl bedient sich der Optik des Grusels: Um zu verstehen, dass Muslime an Unbildung und Unterdrückung leiden, blicken wir von unten in einen zahnlosen Mund.

Muslime sind "Gotteskrieger", das kann man nicht oft genug schreiben, und wenn sie wieder einmal als betende Masse am Boden liegen, verkörpern sie einmal mehr "die Macht des Propheten". Was immer das sein mag, es klingt gefährlich, kein Lamm Gottes, kuschelweich.

Die Texte seien differenzierter als Fotos und Schlagzeilen? Warum wählt man dann diese Bilder? Welches Bedürfnis befriedigen sie? Gibt es ein Bedürfnis, den Islam so zu sehen: als eine abstoßende, hässliche, gewalttätige, Angst machende Religion?

Ein 'Vor' und ein 'Danach'

Diskussion in einem Islam-Institut in Malaysia: Sind die westlichen Medien anti-islamisch? Für die muslimischen Zuhörer aus etlichen Ländern steht die Antwort fest. Die Veranstaltung entwickelt sich zum Tribunal gegen uns, die journalistischen Gäste. Ich verteidige speziell die deutschen Medien. Das war vor gut zwei Jahren, vor 9/11. Was würde ich heute sagen? Es schien ein Fieberschub zu sein: Deutschland in den Tagen nach 9/11; zufällig war ich zu Besuch. In Malaysia hatten auch alle vor CNN gehockt, verstört, entsetzt, ob Muslim, Christ oder Hindu. In Deutschland nahm mir die aufgeladen anti- muslimische Stimmung den Atem; ich war erleichtert, als ich zurückfliegen konnte. Ja, tatsächlich: In einem asiatischen Land mit gestutzten Bürgerrechten und wenig Pressefreiheit konnte ich eine Weile unbeschwerter atmen, weil mir die westlichen Obsessionen erspart blieben.

Nun zurück im Hoheitsgebiet des Staatsfeuilletons: "Epochenwechsel" ! Vieltausendzeilig! Zum zweiten Mal schon jährt sich der Beginn der neuen Epoche, ich habe alle früheren Folgen verpasst, saumselig auf dem anderen Ufer.

Womöglich ist hier wirklich eine neue Epoche angebrochen, vielleicht ging ein existenzielles Sicherheitsgefühl verloren, das anderenorts nie vorhanden war - in all jenen Ländern nämlich, wo die Welt jeden Tag aus allerlei Gründen aus den Fugen geraten kann, durch Massaker, Dürre oder Flut. Zu platt, nicht wahr? Wie im Dritte-Welt-Magazin anno ’82, nicht wahr?Der kluge Kollege Jörg Lau schreibt in der Zeit: "Wer an den Sinn eines Dialogs der Kulturen, an die multikulturelle Gesellschaft und an die Friedfertigkeit des Islam geglaubt hat und weiter glauben will, ist seit dem 11.September in arger Bedrängnis." Ich lese solche Sätze mit dem Finger die Zeile nachfahrend und leise vor mich hinflüsternd, wie man es bei fremden Sprachen zu tun pflegt.

Ach, lieber Jörg Lau, ich muss Dir noch eine Plattheit zumuten. Stell Dir einen Hafen vor, irgendwo in Indonesien, ein Kriegsschiff läuft ein, es ist voller Flüchtlinge, tausende, sie flohen aus Borneo, ihre Peiniger, eben noch Nachbarn, jagten sie mit Macheten, machten Jagd auf Köpfe, und nun trägt eine Frau, die vom Schiff kommt, den Kopf ihres Mannes in einer Tüte. Ein ethnischer Konflikt, genauer gesagt: ein Kampf um Land und Ressourcen suchte sich ethnische Fronten; die Opfer waren in diesem Fall Muslime, die Täter Christen. Sollte ich also an jenem Tag, als ich diese Flüchtlinge befragte, den Glauben an die Friedfertigkeit des Christentums und an den Dialog der Kulturen verloren haben? So leer all die Worte. Ich war an keinem Schauplatz großer Kriege und Krisen, darüber kann ich nicht mitreden. Ich sah nur Orte vergleichsweise alltäglicher Konflikte und alltäglicher Gräuel. Mädchen, die für keinen Epochewechsel taugen, wenn sie mit drei Sätzen erzählen, wie sie vergewaltigt wurden. Es gibt tausend Gründe, jeden Tag, die Hoffnung auf interethnischen und interreligiösen Frieden zu verlieren. Oder auch nicht.

Aber darüber schreiben wir in der Regel nicht: Dass nämlich jeden Tag Menschen in ganz miserablen Hüttendörfern fähig sind, Konflikte mit bewundernswerter Toleranz durchzustehen, auch wenn sie Dialog der Kulturen nie werden buchstabieren können.

Islam-Experten haben Konkunktur

Neulich im ICE Richtung München: Zwei gestandene Mannsbilder Ende 50 geraten sich ins graue Haar; der eine hatte eine scheinbar herrenlose Zeitung an sich genommen, während der Zeitungsbesitzer tatsächlich aber nur auf Toilette war. Sie streiten lauthals weiter, als das Objekt beiderseitiger Begierde längst zurückgegeben ist. Wir wollen uns diese beiden Herren lieber nicht im Disput über einen versiegenden Brunnen vorstellen.

Dieser Dünkel! Wer ist nicht alles zum Islamkenner geworden seit dem Epochenwechsel. Wer nicht Renten-Experte wurde, wurde Islam-Experte, Themen mit Konjunktur. Auf Redaktionskonferenzen kennt man die Beweislage gegen indonesische Sektenführer besser als im Gerichtssaal vor Ort, sortiert leichthändig Gut und Böse im fernen Archipel - sind ja nur 220 Millionen Menschen auf ungefähr 3000 Inseln, da kann man sich gar nicht verfahren. Erkenntnis im Zweisprung. Erstens: Islamischer Terrorismus wird immer schlimmer. Zweitens: Muslime, die wütend sind, lassen sich für Terrorismus rekrutieren. Folglich - siehe erstens. Seltsam, die wütenden Leute, die ich kennen lernte, griffen alle bisher nicht zu Waffen.

Ich rette mich in Sarkasmus beim Schreiben, ungewollt. Weil es schwer ist, über Dinge zu reden, die mir wichtiger wären: Zum Beispiel, warum wir solchen Widerwillen dagegen haben, wenn andere ihrer Religion eine übermächtige Rolle im Leben einräumen.

Jetzt, es ist Abend, denke ich an das Tandoori-Kommando, so nannte ich insgeheim ein Quartett indisch-muslimischer Männer, später Hunger trieb sie wie mich regelmäßig zum selben Imbiss nahe der Moschee. Zum roten marinierten Tandoori-Huhn bekam ich stets ihre Belehrungen über den Koran als Beilage serviert; wehrlos und vollen Mundes nickte ich zu allem. Das machte sie froh: Jemand hörte ihnen zu! Jemand vom anderen Ufer.

Charlotte Wiedemann

Quelle: Frankfurter Rundschau, 19.09.2003

© 2003, Charlotte Wiedemann

Charlotte Wiedemann lebt als freie Autorin in Berlin. Von 1999 bis 2003 war sie freiberufliche Korrespondentin in Südostasien (Woche, Weltwoche, Merian, Geo) mit Wohnsitz in Malaysia.