''Der Koran kann von niemandem vereinnahmt werden''
Amina Wadud, im Jahr 2005 sorgten Sie weltweit für Schlagzeilen, als Sie in New York öffentlich ein gemeinsames Freitagsgebet für muslimische Männer und Frauen leiteten. Sie erhielten Hass-Mails aus aller Welt, es gab Bombendrohungen gegen die Moschee, das Gebet musste an einen anderen Ort verlegt werden. Wie sehen Sie die Ereignisse rückblickend? Welche Konsequenzen haben Sie daraus für sich gezogen?
Amina Wadud: Nach Ansicht der islamischen Orthodoxie dürfen Frauen nur rein weibliche Gebetsgruppen leiten. Allerdings gibt es für diese Einschränkung weder im Koran noch in der Sunna Belege. Unsere Aktion sollte vor allem Frauen für gender-gemischte Freitagsgebete unter weiblicher Leitung begeistern. Ich hatte allerdings nicht mit einer derartigen Medienaufmerksamkeit gerechnet, und schon gar nicht damit, wie man versuchte, das Thema zu instrumentalisieren. Deshalb sage ich mittlerweile eher nein, wenn solche Ansinnen an mich herangetragen werden. Privat, im kleinen Kreis, leite ich auch weiterhin gemischte Gebete. Aber ohne Medienpräsenz.
Sie waren bis zu Ihrem zwanzigsten Lebensjahr christlichen Glaubens. Ihr Vater war ein Methodistenpfarrer. Heute gehören Sie zu den bekanntesten zeitgenössischen islamischen Reformdenkerinnen. Warum sind Sie Muslimin geworden?
Wadud: Ich war immer sehr interessiert an Ideen über Gott, die menschliche Natur, Moral und Spiritualität. Unmittelbar bevor ich Muslimin wurde, war ich Buddhistin und lebte in einem Ashram. Dort lernte ich zu meditieren, was ich heute noch praktiziere. Den Islam lernte ich zunächst eher zufällig kennen – in einer Moschee in dem Viertel, in dem ich damals lebte. Den entscheidenden Anstoß gab mir der Koran. Der Koran öffnete mir Beziehungen zwischen meiner Logik, meiner Weltanschauung und den Dingen um mich herum. Ich fand mich darin wieder, mit meiner Liebe zur Natur und meiner Sehnsucht nach dem Leben hinter der Welt. Ich habe meine Arbeit deshalb besonders auf den Koran und auf Gender konzentriert.
Sie haben als Kind die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA erlebt und Sie kritisierten schon früh die gesellschaftliche Benachteiligung von Frauen. Stand das nicht im Widerspruch zum islamischen Mainstream, als Sie konvertierten?
Wadud: Ganz sicher stand ich vor vielen Widersprüchen. Als ich vor über drei Jahrzehnten begann, über Gender-Inklusion zu arbeiten, war der Begriff Islamischer Feminismus noch nicht in der Diskussion. Mein Buch "Koran und Frau" von 1999 gilt heute vielen als der Beginn der frauenzentrierten Exegese des Korans und als ein Basistext des so genannten islamischen Feminismus. Ich selbst nenne mich nicht Feministin, sondern eine "Pro-faith"-Aktivistin, also eine pro-Glaubens-Aktivistin. Ich bin mir absolut sicher, dass es keinen Ruf von Allah geben kann, der sich nicht gleichermaßen an Männer UND Frauen richtet. Es muss deshalb darum gehen, das Patriarchat abzuschaffen – nicht um neue Hierarchien aufzubauen, sondern um echte Beziehungen der Reziprozität herzustellen, zwischen menschlichen Wesen.
Zu Ihren geistigen Vätern rechnen Sie christliche und jüdische Denker wie Paul Tillich und Martin Buber. In Ihren Büchern "Koran und Frau" sowie "Im Inneren des Gender Jihad" plädieren Sie für einen Islam der Vielfalt, der das Recht der Einzelnen auf Meinungsfreiheit und Anderssein respektiert. Ihrer Ansicht nach muss der Koran im historischen Kontext seiner Entstehung gelesen werden. Gleichzeitig gilt der Koran den Muslimen als ewig und unveränderbar. Wie passt das zusammen?
Wadud: Ich denke, um die geschichtliche und spirituelle Wirkungsmacht des Korans zu verstehen, muss man eine enge persönliche Beziehung zum Koran gehabt haben. Man wird sonst nicht verstehen, wie wichtig die Interaktion zwischen den Lesenden und dem Text ist. Dass die Lesenden den Text auf vielfältige Art nutzen können. Die Beziehung zwischen den Lesenden und dem Text ist dynamisch, denn der Koran wurde in der Zeit geschaffen, aber er weist über die geschichtliche Zeit hinaus.
Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?
Wadud: Wir erleben zurzeit eine globale Bewegung für Reformen des islamischen Personenstandsrechts zugunsten von Frauen. Die wichtigste Quelle ist dabei immer wieder die egalitäre Kernbotschaft des Korans. Diese egalitären Ideen konnten zu Lebzeiten des Propheten nicht umgesetzt werden. Und es gibt auch Stellen im Koran, die der Gleichheit widersprechen. Doch niemand hat das Recht, diese Stellen absolut zu setzen. Der Koran kann von niemandem vereinnahmt werden – nicht einmal von seinem eigenen historischen Kontext. Viele Menschen sind allerdings in einer Kultur aufgewachsen, in der der Koran für eine enge, eingeschränkte Interpretation des Islams genutzt wurde. Das halte ich für falsch. Die Interpretation ist nie vollständig. Wenn also jemand sagt, dass die Bedeutung für immer festgelegt ist, werde ich widersprechen.
Der Koran als offene Struktur – wo ziehen Sie die Grenze zur Beliebigkeit? Was ist für Sie die Essenz des Islams?
Wadud: Ich will nicht, dass der Text auf postaufklärerische Interpretationen reduziert wird. Ich möchte nicht, dass das große interpretatorische Erbe entwertet wird. Und doch sehe ich die Notwendigkeit, Gender als eine Denkkategorie in die Exegese einzuführen. Wir Musliminnen und Muslime schauen durch unsere eigene historische Brille auf den Text. Diese Brille ist genauso berechtigt wie andere historische Brillen, und sie ist genauso begrenzt, denn wir alle können nicht in die Zukunft schauen.
Interview: Martina Sabra
© Qantara.de 2008
Amina Wadud ist Professorin für Islamwissenschaften an der amerikanischen Virginia Commonwealth University in Richmond. 2006 erschien ihr Buch "Inside the Gender Jihad" ("Im Inneren des Gender Jihad") bei Oneworld. 1999 war "Qur’an and Woman" ("Der Koran und Frauen") bei Oxford University Press erschienen.