Anhörungen von Opfern der "bleiernen Jahre"

Unter König Hassan II. waren Tausende politische Gefangene von Menschenrechtsverletzungen betroffen. Eine Wahrheitskommission soll Licht in dieses düstere Kapitel bringen.

By Yassin Adnan

Die öffentlichen Anhörungen von Opfern der Menschenrechtsverletzungen, die in der Zeit der "bleiernen Jahre" in Marokko begangen wurden, rufen in den arabischen und internationalen Medien großes Interesse hervor.

Tatsächlich sind diese Anhörungen, die die "Kommission für Gerechtigkeit und Versöhnung" seit Dezember 2004 organisiert, der Höhepunkt des immensen Interesses, das der Kommission unmittelbar nach ihrer Einberufung am 7. Januar 2004 durch König Mohammad VI. entgegengebracht wird.

Die Wahrheitskommission, die als ein alternatives juristisches Instrument angesehen wird, kümmert sich seit ihrer Einberufung darum, Dokumente aus marokkanischen und internationalen Quellen zu sichten sowie Art, Dauer und Tragweite von Menschenrechtsverletzungen nachzuweisen, die in den Jahren seit der Unabhängigkeit Marokkos von 1956 bis 1999 begangen wurden.

Ebenso prüft sie die Akten von 22.272 Personen, die Menschenrechtsverletzungen angezeigt haben. Dazu zählen willkürliche Verhaftungen, Ausweisungen, Entführungen sowie Fälle von "Verschwinden lassen".

Wege zur Versöhnung

Zu den Aufgaben der Kommission gehört weiterhin, die Opfer auch persönlich anzuhören und entsprechende Nachforschungen in offiziellen Archiven vorzunehmen, um sie bei der Aufklärungsarbeit zu unterstützen. Ebenso sorgt sie für einen Ausgleich der materiellen und immateriellen Schäden, die die Opfer und deren Hinterbliebenen erlitten haben.

Neben der Entschädigung der Personen, die Opfer von willkürlichen Verhaftungen, Entführungen und ähnlichen Rechtsverletzungen wurden, kümmert sich die Kommission auch um die psychische und gesundheitliche Rehabilitierung der Opfer und unterstützt sie dabei, die administrativen, beruflichen und juristischen Probleme zu lösen, die sich den Entführten nach ihrem Wiederauftauchen und den Gefangenen nach ihrer Freilassung stellen.

Die Anforderungen dieser Arbeit veranlassten die Wahrheitskommission dazu, zusätzlich zu ihrem Personal rund hundert Experten als Mitarbeiter zu mobilisieren, etwa um die Vorbereitungen für die öffentlichen Anhörungen zu unterstützen. Diese begannen am 21. und 22. Dezember 2004 in Rabat und wurden in Al-Rashidia, Khenifra und Marrakesch fortgesetzt. Weitere sollen in Al-Hasima und Al-Ouyoun stattfinden.

In den Anhörungen, die live in marokkanischen Rundfunksendern und im Fernsehen übertragen werden, haben bereits Opfer aller Altersgruppen - mit unterschiedlichen politischen Hintergründen und aus verschiedenen Internierungslagern - als Zeugen ausgesagt.

Dabei mussten sie sich dazu verpflichten, den Kodex der Wahrheitskommission zu akzeptieren. Dieser besagt, dass Namen von Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen während der Anhörung nicht genannt werden dürfen, da die Kommission keine juristische Instanz darstellt und daher Einzelne auch nicht zur Rechenschaft ziehen kann.

Schwieriger Schlussstrich unter die Vergangenheit

Bei den ersten Anhörungen in Rabat war eine Vielzahl offizieller Vertreter anwesend: Der Premierminister, der Parlamentspräsident, der Justizminister, der Berater des Königs, die Vorsitzenden der marokkanischen Parteien, Mitglieder des Menschenrechtsrates, nationale und internationale Pressevertreter sowie Aktive der Zivilgesellschaft und Rechtsorganisationen.

Dies verdeutlichte die Bereitschaft aller Beteiligten, sich mit der Vergangenheit auseinander zu setzen, bevor diese abgeschlossen werden kann.

Die aktive Vergangenheitsbewältigung führt nun bei vielen dazu, dass sie erfahren, wie schwierig dieses Kapitel der jüngeren marokkanischen Geschichte ist und wie sehr die menschliche Würde in den "bleiernen Jahren" missachtet wurde. Die Zeugenaussagen waren somit konfrontierend und schmerzlich.

Der Zeuge Raschid Al-Manouzi etwa erzählte von seinem Schicksal und den Folgen für seine gesamte Familie und ihrer Freunde. Sie litten unter verschiedensten Formen der Repression und exemplarischer Bestrafung. Das Leid dauert noch bis heute an, da das Schicksal seines Bruders Hussein Al-Manouzi, der 1972 in Tunesien entführt wurde, immer noch ungewiss ist.

Al-Manouzi berichtete davon, wie er 1970 verhaftet wurde, als er sich auf dem Weg zur Oberschule befand, um die Abiturprüfung abzulegen. Im berüchtigten Gefängnis Maulay al-Scharif litt er unter physischer und psychischer Folter, Schlafentzug und sexuellen Übergriffen. Nach seiner Freilassung wurde er so sehr schikaniert, dass er sich gezwungen sah, sein Heimatland zu verlassen und 25 Jahre im Ausland zu leben.

Auch der Zeuge Saadallah Saleh, der nach den Ereignissen des 16.Juli 1963 zusammen mit Mitgliedern der "Union der Volkskräfte" verhaftet wurde, schilderte detailliert die Formen der physischen und psychischen Folter, denen er ausgesetzt war – unter anderem auch, dass er gezwungen wurde, auf einer gläsernen Flasche zu sitzen.

Haftbedingungen in Frauengefängnissen

Frauen wurden, was die Härte der Peiniger anbelangt, ebenso wie Männer behandelt. Das machte die Zeugin Marie Al-Zouini deutlich: Sie wurde im Juni 1977 unmittelbar nach einer Studentendemonstration im Haus ihrer Familie in Marrakesch verhaftet. Im Gefängnis wurde ihre weibliche Identität ignoriert. Ebenso wie ihre Kameradinnen wurde sie dazu gezwungen, einen männlichen Namen zu tragen.

Al-Zouini, die sich fortan "Abdel Monem" nennen musste, berichtete, dass sie alle Formen psychischer Folter erfahren hat. Sie und ihre Kameradinnen, damals alle zwischen 18 und 22 Jahre alt, wurden erniedrigt und gedemütigt. So wurden die Mahlzeiten bewusst mit Insekten verunreinigt und die Zellen, auch während der Menstruation, nicht gesäubert.

Neuschreibung der marokkanischen Geschichte

Das sind nur einige Beispiele für die aufwühlenden Zeugenaussagen während der Anhörungen, die live im marokkanischen Fernsehen mitverfolgt werden können. Mark Freeman, internationaler Experte für alternative Justiz, bezeichnet sie als die eindruckvollsten ihrer Art auf internationaler Ebene.

Die mutigen und kühnen Anhörungen kennzeichnen eine Entwicklung in der jüngeren marokkanischen Geschichte, die allerdings nicht, wie in anderen Ländern geschehen, zu einem erfolgreichen politischen Wandel oder gar Systemwechsel führt. Nach wie vor vollzieht sie sich innerhalb desselben politischen Systems.

Marokkanische Experten sehen die Bedeutung dieser Anhörungen - und damit alle Bemühungen der Wahrheitskommission - vornehmlich darin, dass sie die dringende Aufgabe angehen, die Geschichte Marokkos nach Jahrzehnten der Vorherrschaft der offiziellen Geschichtsdarstellung, neben der keine anderen Versionen gelten durften, neu zu schreiben.

Ebenso besäßen die Anhörungen erzieherischen Wert, da sie Einfluss auf die öffentliche Meinung, auf Entscheidungsträger der Regierung, auf die nachfolgenden Generationen und somit auf die politische Kultur des Landes haben.

Kritik von Menschenrechtsorganisationen

Allerdings gibt es auch einige Schwachstellen in diesem Prozess, die von vielen Rechtsorganisationen kritisiert werden. So missbilligt das marokkanische "Symposium für Wahrheit und Gerechtigkeit", dass die Opfer zwar als Gäste der Anhörungen verpflichtet werden, aber die Namen der Verantwortlichen nicht nennen dürfen.

Das Symposium fordert auch, den Zeitpunkt der Fernsehausstrahlungen zu ändern, um ein breiteres Publikum zu erreichen. Bislang werden die Anhörungen um sechs Uhr abends übertragen.

Das Symposium bezweifelt, dass die Initiative der Wahrheitskommission ihre Ziele verwirklichen könne, solange viele der Verantwortlichen für die schweren Menschenrechtsverletzungen bis heute wichtige Posten in Entscheidungspositionen besetzen.

Dies kritisiert auch die marokkanische Menschenrechtsorganisation. Die Anhörungen reichten in Wirklichkeit nicht dazu aus, die Wahrheit aufzudecken und eine Versöhnung herzustellen, solange die Opfer nicht die Namen ihrer Peiniger nennen können. Daher veranstaltet die Organisation parallel ebenfalls öffentliche Anhörungen unter dem Motto "Uneingeschränkte Aussagen für die Wahrheit".

Die ersten Anhörungen fanden am 12. Februar im Bahnini-Saal in Rabat statt. Hier wurde eine Liste mit 21 Namen von Personen veröffentlicht, die sich in den "bleiernen Jahren" der Folter schuldig gemacht haben. An vorderster Stelle stehen unter anderem General Oufkir und der ehemalige Innenminister Idriss Al-Basri.

Beobachter glauben, dass die Anhörungen der Organisation nicht mit denen der Wahrheitskommission konkurrieren, sondern sie im Gegenteil unterstützen und bereichern, da sie sich auf die Prüfung der Akten und Zeugenaussagen konzentriert.

Somit kann sie die Lücken in der Arbeit der Wahrheitskommission ausfüllen, da sich diese auf die Jahre vor 1999 beschränkt. Der Menschenrechtsorganisation geht es im Wesentlichen darum, die Menschenrechtsverletzungen nach 1999 zu prüfen, um hier Verantwortungen zuzuweisen.

Übergabe von Akten an die Justiz

Grundsätzlich ist es die Aufgabe der Justiz, bei individuellen Verantwortungen Recht zu sprechen. Daher beantragte Aiman Tahani, Vorsitzender der linksgerichteten Organisation "Vorwärts", bei den Justizbehörden in Casablanca einen Prozess, um die Wahrheit über die Umstände und Gründe für den Tod seines Vaters aufzudecken.

Amin Tahani starb Mitte der Achtzigerjahre an den Folgen der Folter in der Polizeidienststelle des berüchtigten Gefängnis Maulay Al-Scharif.

Für Khadija Al-Rouissi, Schwester des entführten Abdulhaq al-Rouissi und Mitglied des "Koordinationsgremium der Angehörigen der Opfer mit unbekanntem Schicksal", ist dies eine überstürzte Aktion.

Die Ausarbeitung der Prozessakten beansprucht über mehrere Monate Zeit und erfordert die Mitarbeit von Sachverständigen und Richtern. Die Prozesse sind kostspielig und müssen finanziert werden können.

"Natürlich haben die Menschen ein Recht darauf, dass ihre Personalakten an die Justiz übergeben werden. Diese müssen dann allerdings sorgfältig ausgearbeitet sein."

Daher sage es ihr nicht zu, dass die marokkanische Justiz, die bekanntermaßen nicht unabhängig ist, die übereilt ausgearbeitete Akte des Opfers Amin Tahani erhält.

Die Aktivistin, die der Wahrheitskommission nahe steht, kritisiert auch, dass die marokkanische Menschenrechtsorganisation darauf beharrt, über die Verantwortung Einzelner zu reden.

"Das Nennen der Namen ist eine wichtige Angelegenheit", so Khadija Al-Rouissi, "allerdings muss dies in einem umfangreicheren Rahmen erfolgen, um zum Erfolg zu führen."

"Wir merken", fügt sie hinzu, "dass die Zivilgesellschaft isolierte Initiativen gründet, die nicht mit ihrer Umgebung interagieren. Es ist notwendig, sich an den Erfahrungen in anderen Teilen der Welt zu orientieren.

In Chile z.B. wurden die Namen der Verantwortliche zunächst nicht genannt. Trotzdem führte die Entwicklung zur Festnahme Pinochets.“

Die Arbeit der Wahrheitskommission beinhaltet die Erstellung eines Abschlussberichts. Dieses offizielle Dokument soll die Ergebnisse ihrer Nachforschungen darstellen und Empfehlungen geben, wie zukünftige Menschenrechtsverletzungen verhindert werden können. Der Abschlussbericht stellt somit für andere Initiativen eine wertvolle Informationsquelle dar.

Idriss Benzikri, Vorsitzender der Wahrheitskommission, erklärt, dass sie niemanden zur Verantwortung ziehen könne, da dies die Aufgabe des Staates sei.

"Wenn unsere Nachforschungen aber ergeben, dass Parteien, politische oder bürgerliche Kräfte für die Gesetzesübertretungen während der "bleiernen Jahre" verantwortlich waren, so werden wir diese Ergebnisse im Abschlussbericht vorlegen."

Der Bericht soll bis April 2005 fertig gestellt sein. Die Wahrheitskommission und viele Workshops, die sich mit dem Thema auseinandersetzen, haben die öffentliche Meinung in Marokko stark beeinflusst. Daher ist ein erhöhter Bedarf an größerer Dynamik im Bereich der nationalen Justiz spürbar geworden.

Viel wird in diesen Tagen über den baldigen königlichen Erlass gesprochen. Von diesem erwartet man, dass die Wahrheitskommission weiterhin ihrer Arbeit nachgehen kann, die im Sumpf der marokkanischen Justiz einen Stein ins Rollen gebracht hat.

Yassin Adnan

© Qantara. de 2005

Qantara.de
Vergangenheitsbewältigung
Die arabische Welt hat eigene Vorbilder
Kann Marokko dem Irak bei der Aufarbeitung der Geschichte als Vorbild dienen? Sonja Hegasy vom Zentrum Moderner Orient in Berlin plädiert zumindest für einen Erfahrungsaustausch.

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Aufarbeitung der "bleiernen Jahre"
In Marokko werden ab heute die Aussagen von Opfern der Repression unter König Hassan II. im Fernsehen gezeigt. Ein taz-Bericht von Reiner Wandler