Der Rausch
Nagib Machfus, der Vater des ägyptischen Romans, zählt zu den bedeutendsten arabischen Autoren der Gegenwart. Mit seinen Geschichten begeistert der Literaturnobelpreisträger nun schon seit Jahrzehnten Millionen Leser. Über 40 Romane, Geschichten und Theaterstücke hat er bereits geschrieben, darunter die "Kairoer Trilogie", die "Midaq-Gasse" und "Die Kinder unseres Viertels".
Vom Rausch, der die Sinne raubt
Jetzt ist ein neues Buch des betagten Romancier erschienen, das inzwischen auch in deutscher Sprache vorliegt: "Der Rausch" - so lautet der Titel des Buches, in dem der radikale Lebenswandel des 45jährigen Anwalts Omar al-Hamzawi aus Kairo beschrieben wird – ein Mann, der sich rücksichtslos in ein Leben ohne Schranken, jenseits aller Konventionen und Tabus, stürzt. Er ist von einem merkwürdigen "Rausch" gepeinigt, der ihm allmählich seinen Verstand und den Bezug zur Wirklichkeit raubt. Damals, vor dem Putsch der freien Offiziere in Ägypten, fühlte er sich noch stark, war zuversichtlich und steckte voller Tatendrang.
Mit seinen beiden Freunden Osman und Mustafa wollte er "die ideale Welt von morgen" schaffen. Es wäre ihnen vielleicht gelungen, hätte nicht eine verirrte Kugel Osmans Bein getroffen. Während Mustafa und Omar entfliehen können, wird Osman verhaftet. Doch trotz Folter und Verhören blieb Osmans Wille ungebrochen, er verriet die Namen seiner beiden Freunde nicht. Nachdem er schließlich aus dem Gefängnis entlassen wird, hat Osman immer noch nicht aufgehört für seine Vision einer besseren Welt zu kämpfen, wohingegen Omar im Begriff ist, aus der Welt zu scheiden: So verlässt er seine schwangere Frau und stürzt sich in unzählige Liebesaffären mit Prostituierten und Barmädchen. Er flieht zum Schluss in eine abgelegene Hütte, um dort auf "den Tag zu warten, an dem ihn die Erinnerung an die Vergangenheit nicht mehr bedrängt." "Der Rausch" ist ein Roman, der nachdenklich stimmt. Omar, der tragische Held der Erzählung, ist einer der Intellektuellen, der im Sumpf der Verzweifelung und Trostlosigkeit versinkt, der im Rausch der Resignation alle Chancen zum Überleben verpasst und am Ende von einer Kugel der Geheimdienstbeamten getötet wird.
Machfus' "Novels of ideas"
Der ägyptische Literaturwissenschaftler Hamdi Sakkut zählt Mahfus’ Roman, der im Original unter dem Titel "Der Bettler" erstmals 1965 erschien, zur dritten Schaffensperiode des Autors. Romane dieser Zeit charakterisiert er als Machfus' sogenannte "Novels of ideas", die ab 1959 mit der Veröffentlichung des Romans "Die Kinder unseres Viertels" enstanden.
Nagib Machfus wurde am 11. Dezember 1911 in Kairo geboren. An der Universität von Kairo studierte er Philosophie. 1939 wurde er Beamter im Ministerium für Religiöse Stiftungen. 1957 folgte eine Anstellung bei der Kunstaufsichtsbehörde. 1966-1968 war Machfus Vorsitzender des Verwaltungsrats der staatlichen ägyptischen Filmgesellschaft und anschließend bis zu seiner Pensionierung 1971 Berater des Ministers für Kulturelle Angelegenheiten. 1988 erhielt er den Nobelpreis für Literatur und die Ehrendoktorwürde der Universität Kairo. 1994 wurde Machfus von islamischen Extremisten vor seiner Wohnung im Kairoer Stadtteil Agouza niedergestochen und schwer verletzt.
Davor kennzeichneten historisch geprägte Pharaonen-Erzählungen das literarische Werk Machfus'. Der Rückgriff auf das kulturelle Erbe und die zivilisatorischen Leistungen des alten Ägyptens vor der Kolonisierung der 20er Jahre galt damals als Sinnbild für Eigenständigkeit und Fortschritt.
Literarische Schaffenskrise
Nach der Machtergreifung Nassers wurde es dann still um den Literaten Machfus. Es schien, als ob nicht nur die junge Revolution, sondern auch Machfus selbst einen neuen Weg beschreiten musste. "Als die alte Gesellschaft gegangen war", sagte er einmal in einem Interview, "war auch in mir jeglicher Wunsch verschwunden, sie zu kritisieren. Ich hatte nichts mehr, was ich sagen oder schreiben wollte." Allerdings ermöglichte ihm Auseinandersetzung mit den westlichen Geistesströmungen, sich von dieser Denkweise zu lösen. Diese modernistischen Ideen, die von Literaten und Sozialkritikern wie Taha Hussein, Lutfi al-Sayyad oder Muhammed Hassan Haykal in den 30 Jahren aus Europa nach Ägypten gebracht wurden, prägten schließlich den literarischen Wandel Mahfus.
Abrechnung mit dem Nasserismus
So lernte er die Werke der abendländischen Zivilisation, Darwin, Kant, Marx und Freud kennen, aber auch Tolstoi, Ibsen und H. G. Wells. Seine Arbeit im ägyptischen Kulturministerium sowie seine Tätigkeit als Direktor der staatlichen ägyptischen Filmgesellschaft förderte die Annäherung Machfus' an die Moderne ungemein. So konnte er sich auch einen soliden Überblick über das politische Meinungsspektrum ägyptischer Intellektueller jener Zeit verschaffen und die Hintergründe seiner sozialkritischen Romane konstruieren. "Mit Hausboot am Nil" und "Der Rausch" hatte Machfus schließlich mit dem Nasserismus abgerechnet. Für Nagib Machfus und seine Schriftstellerfreunde konnte das Nasser-Regime das Grundproblem der ägyptischen Gesellschaft nicht lösen - nämlich die Frage der Demokratie. Folter, Repression und willkürliche Gewalt stürzten das ägyptische Volk in Hoffnungslosigkeit, Angst und Schrecken. Viele aufgeklärte Intellektuelle flüchteten sich in die innere Migration oder resignierten – genau wie der tragische Held Omar, der in eine Midlife-Crisis taumelt und in ihr versinkt.
Fahimeh Farsaie © Qantara.de 2003
Nagib Machfus: "Der Rausch"- im Unionsverlag