Braucht Ägypten wirklich eine neue Partei?

Ägypter strömen zu einem Wahllokal, um ihre Stimme bei den Präsidentschaftswahlen in der neuen Verwaltungshauptstadt Kairo, Ägypten, am 10. Dezember 2023 abzugeben (Foto: Picture Alliance / Ziad Ahmed/ Nour Photo)
Präsident Sisi ist seit 2013 an der Macht. Hier gehen Ägypter im Dezember 2023 wählen (Foto: Picture Alliance/ NurPhoto/ Z. Ahmed)

Vor den geplanten Wahlen haben Prominente, Intellektuelle und Geschäftsleute eine neue Partei ins Leben gerufen. Statt Neugründungen braucht es jedoch tiefgreifende Reformen im Land – und eine Stärkung der bestehenden Parteien.

Commentary by Ahmed Abdrabou

In Ägypten wurde Ende Dezember die Gründung einer neuen politischen Partei bekannt gegeben: der „Partei der Nationalen Front“. Unter Interessierten kommt es seitdem zu Diskussionen. Meines Erachtens gibt es dafür vier Gründe: erstens den Zeitpunkt der Bekanntgabe, zweitens die Art und Weise der Bekanntgabe, drittens den Hintergrund der Gründungsmitglieder und viertens das aktuelle politische Klima.  

2025 stehen Parlamentswahlen an. Im Sommer wird der Senat gewählt, im Herbst die Abgeordnetenkammer. Das Timing der Neugründung wirft die Frage auf, ob die neue Partei rechtzeitig zum Wahlkampf als potenzieller neuer Koalitionspartner gegründet wurde, als Alternative zu anderen Parteien, insbesondere zu denen, die derzeit eine relative Mehrheit im Parlament haben.  

Was die Art und Weise der Bekanntgabe betrifft, so wurde durch die umfassende Berichterstattung und Inszenierung der Eindruck erweckt, es handele sich um eine neue Staats- oder Regierungspartei. Die Gründungsmitglieder schritten nacheinander über den roten Teppich, von Kopf bis Fuß von Kameras gefilmt, was im arabischen und ägyptischen Kontext mit Staatsmännern assoziiert wird. 

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Ein dritter Grund für die Debatten ist die Zusammensetzung der Gründungsmitglieder, eine Mischung aus prominenten Persönlichkeiten aus Gesellschaft, Journalismus, Politik und Wirtschaft sowie Geschäftsleuten und Intellektuellen. Bei näherem Hinsehen fällt auf, dass sie weder ideologisch noch politisch einen gemeinsamen Nenner haben. Einige von ihnen hatten sich seit Jahren aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.   

Setzen wir diesen Hintergrund der Gründungsmitglieder in Verbindung mit dem Zeitpunkt und der Art und Weise der Bekanntgabe, so stützt das die Hypothese, dass diese neu gegründete Partei tatsächlich eine neue Staats- oder Regierungspartei sein wird – insbesondere, da es seit (der Machtübernahme durch Abdelfattah al-Sisi) 2013 keine eindeutige „Staatspartei“ mehr gibt, wie es sie noch unter Mubarak gab. 

Das politische Klima ist dadurch gekennzeichnet, dass viele ägyptische Parteien seit 2013 erheblich an Vitalität verloren haben, insbesondere jene, die nach der Revolution vom Januar 2011 gegründet wurden. Viele haben aus Angst, Zwang oder Verzweiflung ihre öffentliche und parteipolitische Arbeit eingestellt, auch wenn es in den letzten Jahren einige temporäre Lichtblicke gegeben hat wie den „Nationalen Dialog“ oder den Freispruch von Jugendlichen, die jahrelang im Gefängnis gesessen hatten. Das war ermutigend und lobenswert. 

Wichtig zu erwähnen ist, dass sich die Kontroverse auch aus Äußerungen einiger Mitglieder des Gründungskomitees nährt. Mohamed Mustafa Sherdy, ein Journalist, bestritt auf dem Kanal TEN erst vehement, dass die Partei der Regierung nahestehe. Zugleich machte er jedoch auch Aussagen, die die Hypothese der Regierungsloyalität untermauern.  

So betonte er, dass die Gründungsmitglieder bereits den Höhepunkt ihrer öffentlichen Arbeit erreicht hätten und daher keine persönlichen Ambitionen mehr hegten. Sie würden lediglich versuchen, „Ägypten zu dienen“. Die Mitglieder des Gründungskomitees kämen außerdem von links und rechts, unter ihnen seien Nasserist:innen, Sozialist:innen und Liberale.

Schwächung der Parteien

Die parlamentarische Tradition Ägyptens ist alt, das Land galt als Vorreiter in der Region. So begann das repräsentative parlamentarische Leben in Ägypten im Jahr 1866. Manche sagen, schon 1829 sei durch den von Muhammad Ali gegründeten Schura-Rat der Grundstein des ägyptischen Parlamentarismus gelegt worden. 

Ebenfalls über hundert Jahre alt ist die parteipolitische Tradition. Sie begann mit der von Mustafa Kamel angeführten Nationalbewegung und der Gründung der Nationalpartei 1907. Sie bestand bis zur Revolution von 1919. Nach der Revolution erlebte Ägypten dann eine Epoche parteipolitischer Vielfalt, die bis zum Ende der Monarchie (im Jahr 1952) andauerte.  

Zwar wies der Parteienpluralismus in dieser Phase Mängel auf. Diese liegen im Einfluss der britischen Besatzung auf ägyptische Entscheidungen, wenn es um Königspalast und Regierung ging. So gab es seitens des Palastes das ständige Bestreben, eine dem Palast nahestehende Partei zu schaffen, die der Regierung den Willen des Königs auferlegt.  

Doch hier darf man den historischen Kontext nicht vergessen: Die parteipolitische Vielfalt dieser Phase war fortschrittlich. Ägypten spielte unter nichtwestlichen Ländern eine Vorreiterrolle in der politischen Modernisierung. Vor allem ist der friedliche Machtwechsel zwischen den Parteien zu nennen, den es seit dieser Zeit in Ägypten nicht mehr gegeben hat. 

Ich möchte hier aufgrund der Begrenztheit des Platzes nicht zu weit in die Geschichte eintauchen, aber wir wissen, was danach geschah: Die Zeit Nassers (1954-70) war von einer Einheitspartei geprägt, Sadat (1970-81) machte aus der einen Partei drei, und in der Mubarak-Ära (1981-2011) war das politische Leben in Ägypten von einem limitierten Pluralismus geprägt, jedoch meilenweit von demokratischem Parlamentarismus entfernt. 

Schließlich ebnete die Januar-Revolution 2011 weiteren Parteien den Weg. Wie wir aber wissen, endete diese kurze Epoche nicht mit einem friedlichen Machtwechsel. 

In den 60 Jahren zwischen 1953 und 2013 prägten also zwei grundlegende Merkmale das politische Leben in Ägypten: Erstens gab es nie einen friedlichen Machtwechsel zwischen Parteien, und zweitens gab es immer eine Partei, die eng mit dem Präsidenten der Republik verbunden war. Diese war unter anderem dafür verantwortlich, die Regierung zu bilden, Gesetzesvorhaben festzulegen und sich an verfassungsändernden Maßnahmen zu beteiligen. 

Das Merkmal des ausbleibenden friedlichen Machtwechsels ist bis heute erhalten geblieben, was auf eine Schwächung der Parteienarbeit zurückzuführen ist. Diese Schwächung zeigt sich nicht nur im Vergleich mit der Zeit zwischen 2011 und 2013, sondern auch im Vergleich zur Mubarak-Ära.  

Das Merkmal der Präsidentenpartei dagegen ist verschwunden. Adli Mansour, Präsident von 2013 bis 2014, hatte aufgrund der Umstände seiner Amtsübernahme und der Natur des Übergangsjahres keine politische Partei. Präsident Abdelfattah al-Sisi hingegen wollte keine eigene politische Partei haben und hält daran bis heute fest.

Spaltungen in allen Parteien

Doch auch wenn keine Präsidentenpartei existiert, gibt es politische Parteien, die als „regierungstreu“ bezeichnet werden können. Seit der Präsidentschaftswahl 2014 und der Parlamentswahl 2015 lassen sich drei Arten von politischen Parteien in Ägypten erkennen: Oppositionsparteien, die sich zurückgezogen haben und nicht zur Wahl antraten beziehungsweise gezwungenermaßen nicht teilnahmen; Oppositionsparteien, die erfolglos an den Wahlen teilnahmen; und schließlich regierungstreue Parteien. 

Letztere haben sich wiederum in solche gespalten, die Präsident und Regierung unterstützen, und solche, die dem Präsidenten gegenüber zwar ebenfalls loyal sind, sich jedoch mit ihm zanken – was nicht heißt, dass sie der Opposition zuzurechnen sind. Letztere halten einige symbolische Sitze im Parlament.  

Dieser Konstellation können wir drei weitere Beobachtungen hinzufügen:  

  • Erstens befindet sich Ägypten immer noch im Zustand des limitierten Pluralismus von vor 2011.  

  • Zweitens ist die repräsentative Funktion der Parteien einer Dienstleisterfunktion gewichen. Das bedeutet, dass die Menschen die Parteien nicht mehr als politische Instanz betrachten, die sie vertritt und der Überwachung der Exekutive dient. 

  • Drittens ist die parteipolitische Arbeit generell schwach. Das hat verschiedene Gründe. Einige sind systemischer Natur, andere sind auf die Parteien selbst zurückzuführen. So ist die Regierung bei Wahlen weiterhin indirekt der Hauptakteur, während die Rolle der Parteien im Gegensatz zur Rolle von Einzelpersonen abnimmt. Sicherlich hat das derzeit geltende Wahlsystem dies begünstigt. 

Wenn wir nun noch in Betracht ziehen, dass einige Oppositionsparteien aufgrund interner Streitigkeiten gespalten sind, kommen wir zu dem Schluss, dass Ägypten derzeit keine neuen Parteien benötigt.  

Vielmehr braucht es eine Aktivierung der parteipolitischen Arbeit, was mehr erfordert als nur einen nationalen Dialog. Es bedarf einer Überarbeitung der Wahlgesetze, einer neutraleren Wahlverwaltung und vor allem einer politischen Willensbildung, die mehr politische Offenheit ermöglicht.

 

Dieser Text ist eine bearbeitete und leicht gekürzte Übersetzung des arabischen Originals, das am 4. Januar in der ägyptischen Zeitung Al-Shurouq erschienen ist.

   

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