Identitätsprobleme als Triebfeder des Dschihadismus
Nach Ansicht des Terrorismusforschers Peter Waldmann spielt die Ideologie im Radikalisierungsprozess militanter Islamisten in der westlichen Staatenwelt eher eine untergeordnete Rolle. Sheryn Rindermann hat sich mit Peter Waldmann unterhalten.
Im so genannten "Sauerland-Prozess" gaben die Angeklagten, die wegen geplanter Anschläge vor Gericht stehen, Aufschluss darüber, was "der Islam" für sie bedeutet. Allerdings offenbarten sie eklatante Wissensdefizite über islamische Lehren. Ist das ein typischer Fall?
Peter Waldmann: Jedenfalls nicht der einzige. Auch nach dem Madrider Anschlag vom 11. März 2004 stellten Muslime, die die Attentäter gekannt hatten, fest, diese hätten teilweise erstaunlich wenig Ahnung vom Islam gehabt.
Sie haben Biographien zahlreicher Dschihadisten analysiert. Welche charakteristischen Merkmale haben sie feststellen können? Und werden Islamisten im Westen auf anderen Wegen zu Terroristen als in den traditionell islamisch geprägten Ländern?
Waldmann: Auf jeden Fall ist zwischen jenen Terroristen zu unterscheiden, die primär die Rechte einer muslimischen Minderheitsgruppe und deren Territorium verteidigen, wie etwa die Tschetschenen, die Palästinenser oder die Schiiten im Südlibanon, und jenen, die im Westen heranwachsen.
Erstere sind nahtlos in ihre Volksgruppe integriert, dagegen entspringt der Radikalismus der letzteren gerade dem Umstand, dass ihre Identität nicht geklärt ist, dass sie sowohl Mitglieder des Herkunftslandes als auch des Aufnahmelandes sind und doch keiner der beiden Gesellschaften wirklich angehören.
Welche Rolle spielt die Ideologie des Dschihadismus im Radikalisierungsprozess dieser Terroristen? Existieren jenseits dieser Utopie weltliche, rationale Motive für deren Handeln?
Waldmann: Ich kann mir gut vorstellen, dass dieselben Terroristen vor 30 oder 40 Jahren begeisterte Marxisten gewesen wären, das heißt: Die Ideologie ist aus meiner Sicht eher zweitrangig. Im Vordergrund steht bei den Islamisten im Westen vielmehr die Lösung von zwei Problemen: Das Identitätsproblem – d.h. wer bin ich? Wo stehe ich? –, das durch den militanten Islamismus eine eindeutige Antwort erfährt, sowie das Anerkennungsproblem – wie kann ich die Aufnahmegesellschaft zwingen, mich ernst zu nehmen?
Häufig wird die westliche "Hegemonialpolitik" im islamischen Krisenbogen als zentrale Ursache für den Radikalismus in dieser Region genannt. Lässt sich diese These empirisch aufrecht erhalten?
Waldmann: Wie Marc Sageman überzeugend dargelegt hat, sind individuelle und kollektive Radikalisierungsschübe eine hochemotionale Angelegenheit. Meist werden sie ausgelöst durch eine Kombination aus internationalen politischen Ereignissen, die einerseits von Muslimen als demütigend und ungerecht empfunden werden, und andererseits aus lokalen, d.h. im Westen gesammelten Erfahrungen der Zurücksetzung und Diskriminierung.
Im Zuge des so genannten "Sauerland-Prozesses" wurden auch Rufe nach professionellen Ausstiegsprogrammen aus der Islamisten-Szene laut. In Großbritannien werden diese Programme seit 2006 erfolgreich angeboten. Wie schwer ist der Ausstieg aus der radikalen Szene wirklich?
Waldmann: Klassische Untergrundorganisationen wie die ETA, die IRA oder auch die RAF übten eine beträchtliche Kontrolle über den einzelnen aus. Da kam es durchaus vor, dass Aussteigern "Verrat" vorgeworfen wurde und man sie umbrachte.
Die Islamistenszene im Westen ist diesbezüglich viel weniger geschlossen - sie gleicht eher einem auf interpersonellen Beziehungen und "Selbstrekrutierung" der Betroffenen beruhenden Netzwerk, z.B. via Internet. Ausstiegsprogramme scheitern jedenfalls nicht an allzu hohen Solidaritäts- und Kontrollbarrieren, welche die Gruppe für den einzelnen errichtet haben.
Erfolgreiche Integrationspolitik könnte nach Ansicht vieler Experten dazu beitragen, Radikalisierungstendenzen zu verhindern. Wie sollte diese Politik Ihrer Ansicht nach aussehen?
Waldmann: Auf diese Frage gibt es keine allgemeingültige Antwort. Die verschiedenen Länder haben recht unterschiedliche Traditionen im Umgang mit Fremden und Migranten, die sich nicht willkürlich verändern lassen. Wichtig ist, dass sich ein Land mit seinem konkreten Vorgehen nicht in Widerspruch setzt zu den von ihm vertretenen allgemeinen Grundsätzen der Integrationspolitik, da dies Unverständnis und Verbitterung auslöst.
So stellen die regelmäßigen Vorstadtunruhen in französischen Großstädten keine prinzipielle Absage an den französischen Einheitsstaat dar, sondern einen Protest dagegen, dass das damit verbundene Versprechen, alle Einwanderer als französische Vollbürger zu behandeln, in Bezug auf die Migranten und sonstige Marginalgruppen nicht eingehalten wurde.
Was die Bundesrepublik Deutschland betrifft, so fehlt ihr außer der Betonung der jeweiligen Herkunft, des ius sanguinis, ein Einheit stiftendes nationales Prinzip. Deshalb ist sie in ihrer Migrationspolitik gut beraten, wenn sie einerseits das in der Verfassung verankerte Gleichheitsprinzip ernst nimmt, andererseits aber auf die Besonderheit der Muslime, den islamischen Glauben, Rücksicht nimmt, ihn nicht nur duldet, sondern sich konstruktiv mit ihm und seinen Konsequenzen auseinandersetzt.
Interview: Sheryn Rindermann
© Qantara.de 2009
Peter Waldmann ist Soziologe und Professor emeritus der Universität Augsburg. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Radikalisierung in der Diaspora – Wie Islamisten im Westen zu Terroristen werden" (Murmann Verlag, 248 Seiten).
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