Begegnung der Gegensätze

Der Essay "Die Verschwulung der Welt" des deutschen Schriftstellers Joachim Helfer und des libanesischen Autors Rashid al-Daif ist beim Suhrkamp-Verlag erschienen. Das Ergebnis einer besonderen Dialogerfahrung.

By Volker Kaminski

Jetzt, da der Erfolgstitel "Die Vermessung der Welt" von Daniel Kehlmann noch in den Bestsellerlisten steht, hat der Suhrkamp-Verlag einen schmalen Essayband unter dem Titel "Die Verschwulung der Welt" herausgebracht.

Ging es in Kehlmanns Roman um die Erforschung exotischer Welten durch Alexander v. Humboldt im 19. Jahrhundert, so geht es auch hier gewissermaßen um die Erkundungsreise zweier Männer in dem jeweils fremden Kulturkreis:

Der libanesische Schriftsteller Rashid al-Daif verbrachte einige Wochen in Berlin, begleitet vom deutschen Schriftsteller Joachim Helfer, der anschließend seinerseits den Kollegen in Beirut besuchte.

Homosexualität im Fokus

Dass diese Begegnung, die im Rahmen des interkulturellen Austauschprojekts "West-Östlicher Diwan" stattfand, von besonderer Brisanz war, zeigt sich darin, dass das Thema Homosexualität in den Mittelpunkt ihrer Auseinandersetzung rückt.

Schon im Vorgespräch wird Al-Daif ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sein deutscher Austauschpartner homosexuell sei. Nun würde man bei einem solchen öffentlich geführten Dialog zwischen westlicher und arabischer Welt über Fragen nach sexueller Lebensweise und Geschlechterrollen eher vorsichtige Zurückhaltung und diplomatisches Understatement erwarten - zumal bei intellektuell geschulten Autoren wie Al-Daif und Helfer.

Umso erstaunlicher ist die Offenheit, Direktheit, ja Schonungslosigkeit, mit der sie in ihrem Essay das Thema behandeln. Ohne Umschweife betreten sie - um es mit den Worten Al-Daifs zu sagen - den "Kriegsschauplatz zwischen arabischer Tradition und westlicher Moderne": die Sexualmoral.

Der Essay liest sich spannend, weil das Thema gleichgeschlechtliche Liebe ganz konkret, am Beispiel der Person Joachim Helfers, abgehandelt wird.

Zustande kam der Essay in zwei Schritten. Nach Besuch in Berlin und Gegenbesuch in Beirut verfasste Al-Daif einen Essay, der sich ausdrücklich nicht mit dem Autor Helfer, sondern mit dessen Homosexualität beschäftigt.

Auf diesen Essay, der in arabischer Sprache erschien unter dem Titel "Wie der Deutsche zur Vernunft kam", antwortete Helfer dann in Form eines fortlaufenden Kommentars. Der so entstandene Text besitzt also Dialogform, ohne echter Dialog zu sein.

In mutiger Offenheit gibt Helfer Auskunft über sein Privatleben und spricht vorbehaltlos über seine sexuelle Orientierung. Er wehrt sich gegen geschlechtliche Rollenzuschreibungen und Diffamierungen (z.B. homosexuell = penetrierbar = weiblich = unterlegen).

Diskriminierung in der arabischen Welt

Al-Daif wiederum, der an der Beiruter Universität lehrt und als linker, aufgeklärter Schriftsteller gilt, stellt zum Teil verwundert fest, wie tief er verwurzelt ist in der arabischen Tradition, in der die Rollen von Mann und Frau unabänderlich festgelegt scheinen.

Das Verbot von Homosexualität, die Diskriminierung von Homosexuellen ist in der arabischen Welt leider immer noch an der Tagesordnung. Homosexualität wird tabuisiert, und die Geschlechterbeziehungen sind - selbst in einer Großstadt wie Beirut - stark patriarchalisch geprägt.

So teilt Al-Daif selbst (und verbirgt sie keineswegs) viele der Vorurteile gegen Homosexuelle, doch je mehr er über die Lebensweise Helfers erfährt, der seit zwanzig Jahren in fester Beziehung mit einem weitaus älteren Mann zusammenlebt, desto stärker wird er gezwungen, seine Anschauungen zu überdenken.

Wie schwer es ihm fällt, überkommene Moralvorstellungen zu durchbrechen und sich in den Anderen hineinzuversetzen, auch davon handelt dieses Buch.

Auf der anderen Seite übt Al-Daif aber auch Kritik am westlichen Lebensstil, der ihm von allzu viel Libertinage geprägt scheint. Er sieht die Gefahr eines wachsenden Verfalls, ja eines Verschwindens der Gesellschaft. Für ihn ist die Homo-Ehe das Symbol für die Krise der westlichen Kultur.

Kein echter Dialog

Leider verliert sich das Buch stellenweise im allzu Privaten, mitunter geht der Text zu sehr in die Breite und ins Pathetisch-Schwülstige, wenn es um Helfers "Liebeskrankheit" und seine Suche nach dem "Traumjüngling" geht.

Auch befremden Helfers Mäandersätze, und seine polemische Diktion wirkt oft belehrend. Bei seiner Erwiderung auf Al-Daifs Vorlage schießt er manchmal über das Ziel hinaus, wenn er jede Kleinigkeit interpretiert und in seinem Rechtfertigungskampf auch mit Unterstellungen arbeitet.

Hier tritt überhaupt die Schwäche in der Konzeption des Buches zu Tage: Es ist kein echter Dialog, in dem die Partner auf das jeweils Gesagte reagieren können.

Dennoch bleibt am Ende ein positiver Eindruck: Wir lernen viel über den Abgrund, der zwischen zwei so verschieden geprägten Kulturen noch zu überwinden ist, erfahren etwas über die verzweifelte Situation von Homosexuellen und Frauen im Libanon, die sich aus den von der Tradition geprägten Mustern befreien wollen.

Es wird uns aber auch klar, wie relativ neu Gleichberechtigung und Freiheit in unserer Gesellschaft sind, und dass sie weiterhin verteidigt werden müssen.

Schicksalserlebnis in Beirut

Eine überraschende Pointe bietet das Buch ganz zum Schluss, sie soll hier nicht verraten werden. Es ist eine kleine Sensation, die sich für Helfer in Beirut ereignet hat. Darin wird fast so etwas wie Schicksal spürbar, gerade in der Berührung mit einer tief gegensätzlichen Welt erfährt der deutsche Schriftsteller ein sein Leben umkrempelndes Erlebnis.

Dieses Ereignis lässt einen dann wieder an Kehlmanns "Vermessung der Welt" denken, in der Alexander von Humboldt durch fremde Länder und Kontinente reisen muss, um am Ende etwas über sich selbst zu erfahren. Nur mit seiner in Kehlmanns Roman angedeuteten Homosexualität konnte Humboldt damals noch nicht ins Reine kommen.

Volker Kaminski

© Qantara.de 2006

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