Der Sog der Radikalität

Die Mehrzahl muslimischer Jugendlicher fühlt sich in Deutschland integriert. Doch verschiedene Faktoren in Politik und Gesellschaft haben auch zu einer Abkehr geführt. Eine Spurensuche.

By Martina Sabra

Als Younes zehn Jahre alt war, wollte man ihm in einer Kölner Koranschule eintrichtern, er solle weder kurze Hosen noch seidene Hemden tragen und sich nicht mit "Ungläubigen" treffen. Dem Schüler und seinen Eltern war schnell klar: Da ging er denn auch nicht mehr hin. "Ich habe stattdessen lieber Fußball gespielt und in einer Breakdance-Gruppe mitgemacht", erinnert sich Younes. Mittlerweile ist er 23 Jahre alt und ausgebildeter Kfz-Mechaniker. Dennoch sei ihm der Islam nicht ganz egal, betont er: "Ich bete zwar nur selten. Aber Schweinefleisch ist für mich tabu. Und den Ramadan halte ich auch ein – wenn ich kann."

Mit seiner eher unpolitischen "Patchwork-Identität" ist Younes keine Ausnahme. Er repräsentiert die schweigende Mehrheit der muslimischen Jugendlichen in Deutschland. Eine Mehrheit, die bei den Diskussionen über islamistischen Terrorismus und Jugendgewalt oft zu schnell aus dem Blickfeld gerät.

Gefahr durch Marginalisierung

Fachleute stimmen darin überein, dass die überwiegende Mehrheit der muslimischen Jugendlichen hierzulande mit Islamismus nichts zu tun haben will – einer totalitären Ideologie, die darauf ausgerichtet ist, die Souveränität des Volkes durch einen Gottesstaat auf Grundlage der Scharia zu ersetzen. Es wäre deshalb fatal, muslimische Jugendliche unter Generalverdacht zu stellen.

Doch klar ist auch: Immer mehr junge Männer mit muslimischem Hintergrund laufen Gefahr, auf die Heilsversprechungen islamistischer Eiferer hereinzufallen. "Meiner Meinung nach ist die Bedrohung als sehr ernst einzuschätzen", erklärt der Berliner Sozialwissenschaftler Eberhard Seidel, der sich in zahlreichen Dialogprojekten mit dem Thema befasst hat. "Eine erhebliche Zahl muslimischer Jugendlicher ist marginalisiert und sieht für sich keine Integrationschancen in dieser Gesellschaft."

Gewalt an Schulen, islamistische Gewaltverherrlichung im Internet, neuer Antisemitismus, Rekrutierungsversuche für Terroranschläge im Umfeld von Moscheen: Die beunruhigenden Meldungen häufen sich. Doch wieviele muslimische Jugendliche konkret gefährdet sind und damit ihrerseits gefährlich werden könnten, weiß man nicht einzuschätzen. Über die genaue Zahl der muslimischen Jugendlichen in Deutschland, ihre Beteiligung in religiösen, gesellschaftlichen und politischen Organisationen sowie über ihre politischen Einstellungen gibt es bislang keine einzige repräsentative Studie. "Wie groß der Anteil der Jugendlichen ist, die mit dem Islamismus sympathisieren, wissen wir nicht, mangels quantitativer und qualitativer Erhebungen", bestätigt auch Eberhard Seidel.

Soziale Benachteiligung und Gewalt im Elternhaus

Arbeitslosigkeit, Armut und Zukunftsangst prägen hierzulande den Alltag vieler der schätzungsweise 1,5 Millionen jungen Leute zwischen 12 und 25 Jahren mit muslimischem Hintergrund. Zunehmende Gettoisierung in deklassierten Wohnvierteln und mangelnde Bildungschancen führen dazu, dass nur halb so viele Migrantenkinder wie Deutsche Gymnasien besuchen. Dafür gehen fast dreimal so viele Migrantenkinder wie deutsche Kinder auf die Hauptschule – eine Schulform, die kaum noch Aussichten auf eine berufliche Zukunft bietet. 20 Prozent der Migrantenkinder, mehr als doppelt so viele die deutschen, verlassen die Schule gänzlich ohne Abschluss.

Außerdem kämpfen viele muslimische Jugendliche mit widersprüchlichen Werten in der Familie und im deutschen Alltag. Während sie zuhause gehorchen müssen oder von ihren Müttern verhätschelt werden, sollen sie in Schule und Beruf eigenverantwortlich handeln. Gerade männliche Jugendliche sind damit oft überfordert.

Islamische Ersatzidentität statt Integration

Vor dem Gefühl der Ohnmacht flüchten sich vor allem in städtischen Ballungszentren immer mehr muslimische Jugendliche in religiös gefärbte Überlegenheitsphantasien oder Ersatz-Identitäten. "Der Islam ist für diese Jugendlichen die einzige Ressource, die ihnen von Geburt an nicht genommen werden kann", erklärt Eberhard Seidel: "In dieser Hinsicht unterscheiden sich radikal-islamistische Jugendliche kaum von rechtsradikalen Jugendlichen.

Diese Rechtsradikalen greifen ebenfalls auf eine Ressource zurück, die ihnen niemand nehmen kann – völkische Ideologien oder etwa das angeblich reinere Blut." Dennoch: soziale und wirtschaftliche Probleme sind keine ausreichende Erklärung für die Ausbreitung islamistischer Ideen. Viele junge Muslime grenzen sich trotz sozialer Probleme und Armut von totalitären Ideologien ab. Auf der anderen Seite gibt es gebildete Muslime der Mittelschicht, die den Islam als wichtigen Teil ihrer Identität ansehen. Zweifellos spielen beim Thema Islamismus auch Faktoren wie Sinnsuche oder schlicht Langeweile am Dasein eine Rolle.

Warnung vor "hausgemachten" Terror-Netzwerken

Auch wenn in Deutschland bislang keine islamistischen Anschläge zu verzeichnen waren: Die deutsche Bundesregierung sieht im islamischen Extremismus "die größte Bedrohung der inneren Sicherheit und weltweit". Der Verfassungsschutzbericht des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen vom März 2006 spricht von einer "abstrakt hohen Gefährdung", durch Terroranschläge in der Bundesrepublik.

"Im Umfeld von al-Qaida ist Deutschland genannt worden", berichtet Pressesprecherin Dagmar Pelzer. "Und seit den Londoner Anschlägen vom Juli 2005 achtet man besonders auf Ansätze, die auf so genannte 'home-grown-terrorist'-Netzwerke hindeuten könnten." Außerdem berichten die Verfassungsschützer aus Nordrhein-Westfalen, "dass bundesweit im Umfeld einzelner Moscheen gezielt junge Leute angesprochen wurden und gelegentlich noch werden, um diese für den gewaltsamen Kampf zu werben."

Im Bestreben, die Verbreitung islamistischen Ideenguts in Deutschland einzudämmen, haben die Verfassungsschutzorgane sowohl "legalistische" als auch "militante" Islamistenorganisationen ins Visier genommen, wobei erstere sich zumindest nach außen zum Grundgesetz und zur Gewaltfreiheit bei der Durchsetzung politischer Ziele bekennen, während letztere Gewalt und Terror als Mittel der Politik propagieren.

In der größten legalistischen Islamistenorganisation Deutschlands, Milli Görüs (IGMG, Nationale Weltsicht), die für einen Gottesstaat in der Türkei eintritt, sollen laut Verfassungsschutz bundesweit rund 27.000 Erwachsene und Jugendliche aktiv sein. Kleinere, legalistisch bezeichnete Organisationen, wie die "Muslimische Jugend" in Deutschland (MJD) sollen im Durchschnitt rund 250 Anhänger und Sympathisanten zählen. So genannte "militant-islamistische" Organisationen wie Hamas, Hizbollah und Islamischer Jihad sollen in Deutschland insgesamt rund 2400 Anhänger haben, Jugendliche und Erwachsene inklusive.

Das Internet als Rekrutierungsinstrument

Verfassungsschützer und Wissenschaftler, wie der Bielefelder Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer, warnen vor den Methoden der islamistischen Organisationen: Jugendliche würden mit kostenlosen Freizeitangeboten wie Sport, Computerkursen geködert. Einmal dabei, würden sie mit islamistischen Ideen indoktriniert. Doch die Organisationen arbeiten immerhin in der Öffentlichkeit und sind greifbar. Wesentlich mehr Kopfzerbrechen bereitet der Islamismus im World Wide Web.

"Das Internet ist das wichtigste Betätigungsfeld für Islamisten aller Richtungen - und besonders für Jihadisten" heißt es beim Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalens. Wieviele Sympathisanten sich im Netz tummeln, vermag Pressesprecherin Dagmar Pelzer jedoch nicht einzuschätzen: "Zugriffszahlen im Netz lassen sich naturgemäß nicht seriös bestimmen."

Statt Repressionen Jugendliche stärken

Um zu verhindern, dass islamistische Gruppen ihren Einfluss auf junge Muslime in Deutschland ausdehnen oder schlimmstenfalls Terroristen-Nachwuchs rekrutieren, braucht man zum einen effiziente Geheimdienste mit gut ausgebildeten Experten. Andererseits ist es unerlässlich, die Jugendlichen systematisch gegen totalitäre Einflüsse zu stärken. Das geht nur, wenn erstens sowohl den Eltern der Jugendlichen, als auch den Jugendlichen selbst mehr politische Teilhabe ermöglicht wird, zweitens patriarchale, gewalt-basierte Erziehungsstile verschwinden, drittens Dialogprojekte intensiver gefördert werden und viertens die Bildungschancen junger muslimischer MigrantInnen entscheidend verbessert werden.

Sogenannte "Sprach-Screenings" sind nicht erst bei Schuleintritt, sondern schon zwei Jahre vorher nötig und feste "Migranten-Quoten" für alle Grundschulen sind ebenfalls unerlässlich, um der Häufung von Kindern mit Sprachproblemen an einzelnen Schulen vorzubeugen.

Die Einführung eines aufgeklärten, modernen Islam-Unterrichtes in deutscher Sprache an deutschen Schulen ist sicher von Vorteil, jedoch sollte eine systematische Demokratie- und Menschenrechtserziehung für alle Jugendliche Priorität haben. Denn nicht nur muslimische Jugendliche in Deutschland sind anfällig für Extremismus. Die brutalsten politisch motivierten Gewalttaten in Deutschland gehen seit Jahren nicht auf das Konto von Islamisten, sondern von Rechtsradikalen.

Martina Sabra

© Qantara.de 2006