Ein Analphabet als literarisches Naturtalent
Das kulturelle Erbe des Amerikaners Paul Bowles (1910-1999) lässt sich zu gleichen Teilen in drei Interessensgebiete aufteilen: sein literarisches Werk, seine Kompositionen sowie seine Übertragungen und Übersetzungen von Werken arabischer Autoren seiner Wahlheimat Marokko.
Anders als viele westliche Besucher, die sich in der arabischen Welt niederließen und alles taten, um sich von den Einheimischen abzugrenzen, ließ Bowles diese Welt nicht nur in sein eigenes - schriftstellerisches wie musikalisches - Werk einfließen, sondern arbeitete mit lokalen maghrebinischen Autoren bei der Übersetzung ihrer Werke zusammen und half ihnen bei einer Veröffentlichung im Westen, indem er ihnen seinen Namen lieh.
Seine produktivste Zusammenarbeit dieser Art war sicherlich diejenige mit Mohammed Mrabet, aus der zwischen 1967 und 1986 zwölf Bände mit Erzählungen hervorgingen, die allesamt veröffentlicht wurden. Doch auch Bowles' erste literarische Kooperation hat bemerkenswerte Früchte getragen.
A Life full of Holes von Larbi Layachi, besser bekannt unter seinem Pseudonym Driss ben Hamed Charhadi, wurde im Englischen zuerst 1964 veröffentlicht (in Deutschland 1985). Der Band war äußerst erfolgreich und wurde mehrfach neu aufgelegt, zuletzt vom britisch-amerikanischen Verlagshaus Harper Collins.
Ein einfacher Straßenhändler als Erzähler
Ein Leser, der sich im Internet über Larbi Layachi oder eben über Driss ben Hamed Charhadi informieren will, wird wenig finden. Gerade noch bekommt man die Auskunft, dass er irgendwann nach Amerika gezogen ist, zwei andere Bücher veröffentlichte und dass er unter zwei weiteren Pseydonymen lebte. Des Weiteren erfahren wir noch, dass sein Geburtsjahr 1937 ist und dass er, als er Paul Bowles 1961 traf, ein Straßenverkäufer war, der weder lesen noch schreiben konnte.
Paul Bowles hat niemals erzählt, wie es eigentlich zu der Freundschaft mit Layachi kam, aber den Quellen nach zu urteilen, muss Layachi oft bei Bowles zu Besuch gewesen sein. Und während einer dieser Besuche muss dann wohl auch die Idee zu dem Buch Ein Leben voller Fallgruben entstanden sein.
Wie Bowles in seiner Einleitung berichtet, "schrieben" die beiden Ein Leben voller Fallgruben während einer Reihe von Abenden, an denen Layachi seine Geschichte in einen Kassetten-Recorder sprach. Bowles war überrascht, dass es seinem Freund möglich war, die Geschichte ohne Pause zu erzählen und dass er nur äußerst selten etwas korrigieren oder streichen musste. Wie Bowles es ausdrückte: "Charhadi zögerte niemals … er veränderte nie die Intensität seines Redeflusses."
Kindheit in Zwangsarbeit
Ein Leben voller Fallgruben erzählt die Geschichte von Ahmed ben Said Haddari, beginnend mit der frühen Kindheit bis hin zum Überlebenskampf als Erwachsener.
Wenn schon die Armut allein eine schwere Last für ein kleines Kind ist, verschlimmert sich Ahmeds Leben, nachdem seine verwitwete Mutter erneut heiratet. War sein Leben als Einzelkind gerade noch erträglich, sollte sich nach der Geburt seines Stiefbruders bald herausstellen, dass sein Stiefvater keine Verwendung für ihn haben würde: "Wenn er nicht arbeitet und auch kein Geld nach Hause bringt, sehe ich keinen Grund, für sein Essen oder seine Kleidung zu sorgen."
Auch wenn dies bei einem Teenager, der nichts tut, als zu Hause herumzuhängen und sich von vorn bis hinten bedienen zu lassen, gerade noch verständlich wäre, so sieht dies bei einem kleinen Kind ganz anders aus. Bereits als kleiner Junge war Ahmed also gewisserweise ein Zwangsarbeiter, da seine Arbeitgeber alles Geld, das er verdiente, direkt seinem Stiefvater schickten, der ihm keinen Cent davon abgab.
Unter den Rädern des Kolonialismus
Deshalb kann es nicht überraschen, dass er schnell in die Kriminalität abrutscht. Doch schon bevor er tatsächlich die ersten kriminellen Delikte begeht, erfährt der Leser, wie leicht ein Araber im damaligen Marokko unter die Räder des kolonialen Rechtssystems geraten konnte.
Ahmed und seine Mutter werden auf einer Reise in das Dorf ihres Vaters verhaftet und kommen ins Gefängnis, weil sie nicht beweisen können, dass sie dort tatsächlich Verwandte haben. Araber durften damals in ihrem eigenen Land nur reisen, wenn sie Papiere vorweisen konnten, die den Grund ihrer Reise beglaubigten oder den Nachweis über verwandtschaftliche Beziehung am Zielort enthielten.
Auch wenn Ahmeds Leben für einen jungen Araber seiner Generation ein recht typisches sein mochte, reichen die Vorbehalte der Araber gegenüber dem Westen und ihren ehemaligen Kolonialherren weiter.
Obwohl die "Nazarener", wie die verarmten Araber die christlichen Kolonialherren nannten, derart entrückt vom Alltag des gemeinen Volkes lebten, dass sie kaum jemals mit Ahmed oder seinen Freunden in direkten Kontakt kamen, so sind in Charhadis Erzählung doch eine konstante Präsenz, und sie haben auch die oberste rechtliche Entscheidungsgewalt inne.
Unmittelbarkeit der mündlichen Erzählung
Als Ahmed beim Verkauf von Haschisch geschnappt wird, wird er zu einer Gefängnisstrafe verdonnert. Die Geschichte erklärt auch, vor welchem Hintergrund die Verurteilung zustande kommt: Die Kolonialherren sind haben nämlich die Absicht die Marokkaner zum Rauchen von Tabak zu bringen, da dieser Markt von Europäern kontrolliert wird.
Zwar überlassen die Nazarener die Drecksarbeit ihren arabischen Untergebenen, doch letztlich sind sie es, die die Fäden ziehen und Menschen wie Ahmed zu einem Leben in Armut und im Teufelskreis der Kriminalität verurteilen.
Die Beschreibungen von Ahmeds Entbehrungen und Schwierigkeiten sind schon verstörend genug und doch ist es vor allem die Form der Erzählung, die ihr ihre Kraft verleiht:
So ist die Geschichte eben nicht aus der Sicht einer abstrakten dritten Person verfasst, vielmehr wird der Leser ganz direkt angesprochen. Die Identifikation Charhadis mit seiner Hauptperson verstärkt diesen Eindruck, und auch der Umstand, dass die Geschichte durchgehend im Präsens geschrieben ist, gibt ihr eine Unmittelbarkeit, die anderen Erzähltexten normalerweise fehlt.
Jede Begebenheit aus Ahmeds Leben wird direkt wiedergegeben, so dass wir sie im selben Moment erleben wie er selbst und die übliche Trennung zwischen den literarischen Charakteren und dem Leser aufgehoben ist.
Ein Leben voller Fallgruben ist nicht nur ein kraftvolles und erschütterndes Porträt des Lebens der Ärmsten der Armen im kolonialen Marokko, sondern auch ein wundervolles Beispiel dafür, dass es möglich ist, den Zauber und die Unmittelbarkeit mündlichen Erzählens auf die geschriebene Literatur zu übertragen.
Üblicherweise wird bei der Übertragung einer mündlichen Geschichte versucht, sie in einen Roman zu adaptieren. Dass dieser Weg hier nicht gewählt wurde, macht Ein Leben voller Fallgruben zu einem solch einzigartigen und besonderen Buch.
Richard Marcus
© Qantara.de 2009
Übersetzung aus dem Englischen: Daniel Kiecol
Qantara.de
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