Anlass zur Hoffnung
Auf dem Gebiet der Frauenrechte hat Afghanistan seit dem Sturz des Taliban-Regimes 2001 große Fortschritte gemacht. Die Gleichheit von Mann und Frau ist in der Verfassung festgeschrieben. Mehr als 2,8 Millionen Mädchen gehen zur Schule, Frauen stellen knapp 30 Prozent der Abgeordneten in der Nationalversammlung.
Die ehemalige Regierung Karzai hatte das internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (CEDAW) unterzeichnet und 2009 das afghanische Gesetz über die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen in Kraft gesetzt. Letzteres stellt nicht nur Vergewaltigung, Misshandlung und andere Gewaltanwendung gegen Frauen unter Strafe, sondern beispielsweise auch Zwangsheiraten, Kinderehen, den Kauf beziehungsweise Verkauf von Frauen zur Streitschlichtung.
Gesetze sind eine Sache, eine andere ist ihre Verwirklichung im Alltag. Hier setzt die Kritik von UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay an. Sie bilanzierte im Dezember 2013, dass das Gesetz über Gewalt gegen Frauen nur zäh und stockend umgesetzt werde. Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte seien zurückhaltend bei der Anwendung der gesetzlichen Instrumente zum Schutz der Frauen.
Täter können auf "verständnisvolle Justiz" rechnen
Die Strafverfolgungsbehörden griffen häufig zum Instrument der Schlichtung, anstatt die vorhandenen gesetzlichen Möglichkeiten zum Schutz der Frauen auszuschöpfen, sagen Kritiker wie Sari Kuovo vom Afghanistan Analysts Network. "Die Täter erhalten die Gerechtigkeit, die sie selbst für richtig halten, vorausgesetzt, sie haben die richtigen Beziehungen und Telefonnummern." Die Expertin spricht von einer "korrupten und von der Politik abhängigen Justiz".
Das Parlament verabschiedete einen Gesetzentwurf, der es Zeugen praktisch verbietet, gegen Verwandte auszusagen, die wegen Gewalt oder sonstiger Vergehen gegen Frauen vor Gericht stehen. Erst nach internationaler Kritik an dem "Anti-Frauen-Gesetz" ordnete der frühere Präsident Karzai Änderungen an dem Gesetzentwurf an.
"Diskriminierende Praktiken"
Obwohl sich der Westen beim Sturz der Taliban auch die Frauenrechte auf die Fahnen geschrieben habe, bleibe Afghanistan eine patriarchalische Gesellschaft, konstatiert Sari Kuovo. "Die Entscheidungen über das Leben der Frauen hängt weitgehend vom Willen der Väter und Ehemänner ab", so Kuovo. Ihre Einschätzung entspricht derjenigen von Phumzile Mlambo-Ngcuka, Executive Director der Organisation UN Women.
Sie sieht Frauen in Afghanistan auf allen Gebieten im Hintertreffen, ob Bildung, Arbeitsmarkt oder Politik, Grund seien "weit verbreitete diskriminierende kulturelle Praktiken." Der Südafrikanerin zufolge sind fast 90 Prozent aller Afghaninnen Opfer von Gewalt geworden, wobei Gewalt physisch, psychisch, sexuell, wirtschaftlich oder gesellschaftlich aufgefasst wird. In jüngster Zeit seien Morde und Drohungen gegen hochrangige afghanische Regierungsmitarbeiterinnen hinzugekommen.
Errungenschaften in Gefahr
"Es gibt starke Befürchtungen, dass die Fortschritte der vergangenen Jahre in punkto Gesetzgebung und politischer Teilhabe zunichte gemacht werden könnten", sagt Sari Kuovo. Befürchtungen, die durch den Truppenabzug der NATO und die damit verbundenen Unwägbarkeiten noch verstärkt werden. Denn unklar ist, ob die NATO wie geplant mit einer verkleinerten Einsatz- und Ausbildungstruppe im Lande bleiben kann, wie es mit der Entwicklungshilfe weitergeht, ob die Taliban ihre Angriffe gegen die Regierung des Karsai-Nachfolgers intensivieren werden. Ebenso unklar ist, welchen Stellenwert der neue Präsident und seine Regierung den Frauenrechten einräumen werden.
Hier sieht Sari Kuovo die Internationale Gemeinschaft weiterhin in der Pflicht. Sie müsse Druck auf die neue Regierung in Kabul ausüben, wann immer diese Anstalten mache, Menschenrechte und internationale Verpflichtungen zu missachten. Dafür sei die Mitarbeit und Aufmerksamkeit unabhängiger zivilgesellschaftlicher Organisationen in Afghanistan unerlässlich.
Gabriel Dominguez
© Deutsche Welle 2014