Spannung wie vor dem Endspiel
Es ist die größte Demonstration seit der Revolution gewesen, die Teheran am vergangenen Montag (8.6.) gesehen hat:
Zehntausende, mit grünen Bändern geschmückte Jugendliche, Studenten und Bürger sind auf dem 20 Kilometer langen Wali-Asr-Boulevard von Süden nach Norden durch die Stadt marschiert, um sich zu Mirhossein Mussawi als ihrem Kandidaten zu bekennen.
Die letzte Etappe nach Tajrisch, hoch oben im Teheraner Norden, führt entlang des Geländes des staatlichen iranischen Rundfunks (IRIB), an dessen Haupteingang die Menschenmenge ihre grünen Fahnen schwenkte und Parolen gegen die Regierung und deren Instrumentalisierung der staatlichen Medien skandierte.
"Wir wollen keine Kartoffel-Regierung!"
Erst am vergangenen Sonntag (7.6.) hatte man Ahmadinedschad, der zuletzt auf dem Land Kartoffeln verteilen ließ, im TV beim Radieschenpflücken zuhause im Trainingsanzug zuschauen dürfen.
Und im Anschluss hörte man Iraner jüdischen und zoroastrischen Glaubens bekunden, sie würden Ahmadinedschad wählen. Daher skandiert nun die Menge lauthals: "Lügner, Lügner, Lügner!" und "Wir wollen keine Kartoffel-Regierung!"
"So etwas haben wir selbst bei den Studentenunruhen von 1999 nicht erlebt", sagen Mehdi und Maziyar, die seit jenen Tagen nicht mehr politisch aktiv waren. Die Slogans, die die Jugend von heute ruft, finden sie mehr als skurril: Als Demonstranten jene bengalischen Lichtfontänen zünden, mit denen die Anhänger des AS Rom ihren Gegnern Angst einzuflößen pflegen, raunt die Menge "Mussawi, Mussawi, AS Mussawi".
Sieht man von kleineren Schlägereien zwischen Anhängern Ahamdinedschads und Mussawis ab, ist die Situation bislang friedlich. Die Sicherheitskräfte halten sich zurück und lassen die jungen Menschen gewähren, deren Urbild des Politischen offenkundig die Gegnerschaft zweier Fußballmannschaften und ihrer Fans zu sein scheint.
Dass dieses Inszenierungsmuster schon der Kandidatenauswahl durch den Wächterrat und den 90-minütigen TV-Debatten zugrunde lag, die in den letzten Tagen eine ganze Nation vor den Fernseher verbannen konnte, gibt zu denken.
Politischer Monolog als Normalfall
"An diese Serie hätte ich mich gewöhnen können", scherzen viele Iraner, die eher den politischen Monolog gewöhnt sind und denen die Begegnungen von Mohsen Rezaei versus Mahmud Ahmadinedschad oder Mehdi Karrubi gegen Mirhossein Mussawi zuletzt viel Gesprächsstoff geliefert haben.
Stündlich zirkulieren per SMS neue Witze, die sich auf die Höhepunkte der TV-Duelle beziehen: Mythische Momente eines – im wahrsten Sinne des Wortes – kanalisierten Meinungsbildungsprozesses, der sich in Ermangelung von Parteien als TV-Plebiszit inszeniert.
Bei diesem Plebiszit kann der einzige Geistliche im Rennen – der greisenhafte Mehdi Karrubi – als gescheitert gelten. Sowohl seine mangelnde Schulung im Umgang mit dem Medium als auch seine klerikale Rhetorik haben symptomatisch verdeutlicht, dass die Jahre der Protagonisten der Islamischen Revolution vorüber sind.
Für eine große Überraschung sorgte hingegen das letzte Duell am letzten Montagabend (8.6.) zwischen Ahmadinedschad und Mohsen Rezaei. Dem ehemaligen Kommandanten der Revolutionsgarden, der 1992 an einem Anschlag auf die israelische Botschaft in Buenos Aires beteiligt gewesen sein soll, gelang, was bisher kein anderer Kandidat vermochte:
Mit furchteinflößender Gelassenheit analysierte der Wirtschaftsexperte die strukturellen Schwächen der Politik Ahmadinedschads, bezeichnete dessen Einmischung in militärische Belange als Gefährdung der nationalen Sicherheit und maßregelte Ahmadinedschads Ausweichmanöver als Kindereien.
In dessen Bemühungen, die Auseinandersetzung mit Rezaei als Streit unter befreundeten Prinzipientreuen erscheinen zu lassen, zeigte sich, wie groß der Einfluss der Revolutionsgarden geworden ist. Wenn es einen Sieger der TV-Debatten gab, dann heißt dieser Rezaei.
Gefahr politischer Instrumentalisierung?
Die Vorrunde mit den sechs Gruppenspielen zwischen den vier Kandidaten ist nun allerdings vorüber. Das Endspiel rückt näher und die euphorische Stimmung, die sich in den letzten Tagen bis tief in die Nacht mit zunehmender Intensität in Autocorsos, Hupkonzerten und dröhnender Musik entlädt, hat etwas zutiefst Ambivalentes an sich.
Dies nicht nur, weil der rebellische Geist, der sich in diesem Treiben zeigt und sich in einer hohen Wahlbeteiligung manifestieren könnte, von der politischen Elite um Revolutionsführer Ali Khamenei als Bekenntnis der Jugend zum System instrumentalisiert werden wird.
Ambivalent ist vor allem die Siegesgewissheit der Anhänger Mussawis, die nur allzu leicht in Frustration umschlagen könnte, sobald erste Gerüchte über Wahlbetrug die Runde machen sollten.
Daher gilt ihre Hauptsorge nun den vielen mobilen Wahlurnen, die an diesem Wahlfreitag zum Einsatz kommen sollen und als leichter manipulierbar gelten. Wie schon bei der Organisation spontaner Kundgebungen in den letzten Tagen wird die Kommunikation per SMS auch bei der Auswahl sicherer Wahllokale eine wichtige Rolle spielen, sofern die Mobilfunknetze nicht lahm gelegt werden.
Karnevalesker Ausnahmezustand
Ambivalent ist schließlich, dass der karnevaleske Ausnahmezustand, den derzeit eine Bevölkerung genießt, die im Durchschnitt 27 Jahre alt ist, kaum verbergen kann, dass die iranische Gesellschaft eine zutiefst gespaltene ist.
Besucht man eine Kundgebung, wie die, die der amtierende Präsident am vergangenen Montagnachmittag im Herzen Teherans anberaumt, in letzter Minute aber "wegen Überfüllung" abgesagt hatte, so wird deutlich, dass die zahllosen Menschen, die aus den ärmeren Wohngebieten Teherans herbeiströmen und mit Hunderten von Bussen herangekarrt worden sind, kaum Berührungspunkte mit den Menschen haben, die wenige Stunden später für Mussawi auf die Straßen gehen werden.
Während man bei diesen in die Gesichter lachender Menschen mit urbanen Gepflogenheiten blickt, machen sich die Anhänger Ahmadinedschads wie in einem freudlosen Rausch über kostenlose Lunchpakete und iranische Fähnchen her. Themen wie Frauenrechte oder Pressefreiheit können für diese Menschen, die offenkundig von der Hand im Mund Leben, kaum von Bedeutung sein.
Rafsandschanis späte Rache
Die Kernbotschaft, die Ahmadinedschad für sie seit der TV-Debatte mit Mussawi täglich wiederholt, haben sie allerdings verinnerlicht: Die drei Gegenkandidaten, die sich gegen ihn verschworen haben, sind korrupte Marionetten des ehemaligen Staatspräsidenten Rafsandschani, der sich für die Niederlage bei den Stichwahlen vor vier Jahren rächen will.
Ahmadinedschad hingegen – das zeigt jedes seiner Wahlplakate, das ihn voller Fürsorge für die Armen, Alten und Schwachen inszeniert – ist der Rächer der Entrechteten. Er ist der "dozdgir", der Räuberfänger, der in der Wahrnehmung seiner Anhänger außerhalb des Systems steht und sein Leben riskiert, um mit der Vetternwirtschaft der Mullahs aufzuräumen.
Dass es diesen "Zorro in der beigen Windjacke" wirklich gibt, glauben heute vielleicht noch mehr Iraner als vor vier Jahren. "Geht mir doch mit eurem Stotterer Mussawi!", ruft eine Frau, die im rabenschwarzen Tschador mit drei Kindern im Schlepptau an einer Gruppe Jugendlicher vorbeirauscht, die für Mussawi werben.
"Ahmadinejad ist ein Löwe und fängt jeden Abend einen Dieb!", skandiert sie zwei Mal und verschwindet dann im Getümmel.
Alessandro Topa und Roshanak Zangeneh
© Qantara.de 2009
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