Popcorn alla Turka
Als 1982 Yilmaz Güneys „Yol“ anlief, gab er für eine lange Zeit die Themen vor, mit denen sich türkische Filme auf deutschen Leinwänden auseinander setzen sollten: Kurden- und Frauenproblematik, Analphabetismus, Landflucht, Militärdominanz, Filmzensur etc..
Das so geprägte düstere Bild eines Landes mit demokratischen Defiziten hat sich spätestens seit 1996 geändert: Im Gefolge von Yavuz Turguls Erfolgsdrama „Eskiya, der Bandit“ gelangten immer mehr türkische Populärfilme in die deutschen Kinosäle – längst nicht mehr nur in die Programmkinos, sondern auch in die Multiplex-Kinos.
Startete ein Film früher mit mindestens mehreren Monaten Verspätung zum türkischen Starttermin, so beträgt der Abstand heute oft nur wenige Tage. Damit ist die türkische Community noch schneller an den Zeitgeist vom Bosporus angeschlossen. Für den Verleih sind vor allem zwei Firmen verantwortlich. Warner brachte mit „Propaganda“, „Güle Güle“, „Komisar Shekspir“, „Vizontele 1“ und "Vizontele 2" türkische Kassenmagneten ins Rennen, die zugleich auch das deutsche Publikum gewinnen sollten.
Hinter dem Maxximum-Filmverleih steht Anil Sahin, ehemals Geschäftsführer und Projektentwickler der Hamburger Cinemaxx-Spielstätten. Als er in der Türkei den Markt erkunden sollte, gründete er dort sofort seine eigene Firma.
Kinofilme sind erfolgreiche Heimspiele
Nachdem der Erstling „Balalaika“ im Oktober 2001 in den deutschen Kinos gefloppt ist, passte Sahin seine Werbestrategie dem neuen Publikum an: Türkische Zuschauer sind treue Konsumenten mit einer hohen Produktbindung. Das einzelne Event zählt für sie weniger als regelmäßige Kinoabende. Während Warner trotz hoher Einnahmen keine großen Gewinne einfährt, weil das Werbebudget falsch kalkuliert wurde, erhalten die Maxximum-Filme hingegen deutsche „Bogeys“ -Preise für die beste Kopienauslastung.
Ein paar Zahlen: „Deli Yürek“ bespielte in 70 bis 80 Städten 150 Säle. Das Schlusskapitel einer türkischen Kult-Familiensoap , „Asmali Konak“, war mit 35 Kopien und 220.000 Zuschauern der erfolgreichste Titel. Für April sind zwei Titel parallel angekündigt.
2003 haben die Türken mit Maxximum-Produktionen auch vor Wien nicht halt gemacht, ebenso laufen die Produktionen in Bulgarien und in der Schweiz an. Vor wenigen Wochen belegte ein Film in den Niederlanden Platz 3 der Kinocharts. Dabei sind solche Auswärtsspiele Heimspiele: die Quote deutschstämmiger Zuschauer liegt zwischen dürftigen 2% („Deli Yürek“) und 4% („Asmali Konak“).
Deutschtürkisches Publikum ist Zielgruppe
Eine genaue Betrachtung des Publikums könnte Themen für Migrations- und Zuwandererdebatten liefern. Interessant ist, dass das türkische Publikum als neuer Freizeitkonsument entdeckt wird. Nach der völligen Ausgrenzung in den Sechzigerjahren, der Gastarbeiter-Leidensperspektive in den Siebziger- und Achtzigerjahren und der Selbststilisierung der Kanak-Attack-Bewegung in den Neunzigerjahren scheinen die „Deutschländer“ nun über den Eintritt in deutsche Einkaufswelten in der Popkultur angekommen zu sein.
Der Vorzeigerebell Fatih Akin verkörpert nur die Arthouse-Avantgarde eines Phänomens, das in anderen Einwandererstaaten längst bekannt ist. Dabei bleibt das Phänomen ein typisch deutsches, mit markanten Unterschieden zur Türkei.
Dass die hier startenden Filme deutsch untertitelt anlaufen, dient weniger der Handvoll nichttürkischer Zuschauer, sondern hilft vor allem, die fehlende Sprachkompetenz vieler Deutschtürken auszugleichen.
Überrascht stellt man fest, dass allzu derbe Flüche und Szenen mit nackter Haut aus den mitgelieferten Werbetrailern ausgeschnitten wurden, da das Zielpublikum in Deutschland wertkonservativer ist als das am Bosporus.
Für die Zukunft mag es zu einer Re-Immigration kommen: einer Kolonisierung türkischer Studios und Kinosäle durch deutsch-türkische Blockbuster. Maxximum plant, ein Zugpferd mit Moritz Bleibtreu zu produzieren. In Hamburg entsteht derzeit „Süperseks“. Die mit deutschen Geldern und deutschem Regisseur produzierte und mit türkischstämmigen Schauspielern realisierte Komödie über eine türkische Sex-Hotline könnte auch in der Türkei gute Chancen haben.
Positives Türkei-Bild durch Popcorn-Kino?
Inwieweit türkische Lebenswirklichkeit quer durch alle Genres vermittelt wird, mag jeder für sich entscheiden:
„Propaganda“, „Vizontele“, „Vizontele Tuuba“ sind süffige Provinzpossen, die auch beim deutschen Publikum Lachkrämpfe auslösen. Dabei behandeln diese Dorffilme zwar zunehmend politische Themen, dies aber mit dem Niveau eines Asterixbandes.
Während die Türkei hier als im Kern konfliktfreie, multiethnische Großfamilie erscheint, geht es bei „Deli Yürek“ hart zur Sache. Der furiose Actionstreifen greift den Konflikt in Kurdistan („Mesopotamien“) auf, um ihn verschwörungstheoretisch als Komplott zwischen CIA und Hisbollah zu deuten, das nur durch einen türkischen Rambo zu lösen ist.
Mögliche Untiefen umschiffend, bewertet Anil Sahin - ein optimistischer Grenzgänger, der mit deutschem Pass hüben wie drüben lebt - den neuen Trend positiv: das lustige, bunte Filmwunder vermittelt ein neues, positives Bild der Türkei und bereitet den Anschluss an Europa vor.
Anders sieht es Haluk Bilgener, ein Superstar des alten und neuen türkischen Kinos und derzeit Hauptfigur in „Firuze, wo bist du?“, eine Satire auf die türkischen Ausgaben von „Superstar“ und „Fame Academy“. Bilgener begrüßt zwar den aktuellen Hype - schließlich verspricht er der kriselnden Filmbranche den erhofften Aufschwung- ist aber skeptisch, was die Dominanz des Popcorn-Kinos angeht: „Es wird eine neue vergnügungshungrige Generation herangezogen, die vollkommen apolitisch ist.“
Kulturpessimisten mögen die Türkei mit ihren mehreren hundert lokalen Fernsehkanälen, ihrer Regenbogenpresse, und ihren TV-Boulevard-Magazinen, die alle Tabus missachten, schon fast in die Nähe einer Mediendiktatur gerückt sehen. Das allerdings ist dann wirklich ein europäisches Problem.
Amin Farzanefar
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