Gelehrte Intoleranz

Mit seinen Anfeindungen gegen religiöse Minderheiten in der islamischen Welt und seinen Pauschalurteilen über das muslimische Leben in Europa schadet der Islamgelehrte Yusuf al-Qaradawi dem Dialog und der interreligiösen Verständigung. Khaled Hroub kommentiert.

Mit seinen Anfeindungen gegen religiöse Minderheiten in der islamischen Welt und seinen Pauschalurteilen über das muslimische Leben in Europa schadet der islamische Gelehrte und Fernsehprediger Yusuf al-Qaradawi dem Dialog und der interreligiösen Verständigung. Ein Kommentar von Khaled Hroub

Symbolbild Yusuf al-Qaradawi/Al-Dschsira; Foto: dpa/DW/AP
"Als Symbol für die islamische Toleranz ist al-Qaradawi wenig tauglich, vor allem aufgrund seiner herabsetzenden, ja intoleranten Haltung gegenüber Andersdenken und religiösen Minderheiten in den islamischen Ländern", meint der Publizist Khaled Hroub.

​​"Der globale Mufti: das Phänomen Yusuf al-Qaradawi" – so lautet der Titel eines jüngst erschienen Sammelbandes über das Leben und Wirken des wohl bekanntesten Predigers und einflussreichen TV-Scheichs in der islamischen Welt.

Namhafte arabische und westliche Wissenschaftler versuchen in diesem Band, mehr Licht in die vielfältigen Aktivitäten des ersten, so genannten "globalen Mufti" zu bringen, insbesondere in dessen Wirken als Präsident der "Internationalen Vereinigung Muslimischer Rechtsgelehrter" (IAMS) sowie des Europäischen Fatwa-Rats. Und natürlich wird al-Qaradawi auch in seiner Funktion als Initiator zahlreicher Medienaktivitäten, wie etwa seine Sendung "Die Scharia und das Leben" auf al-Dschasira, beleuchtet.

Bein genauerem Hinsehen entpuppt sich das Buch jedoch bedauerlicherweise als verharmlosend, denn es trägt kaum zur Aufklärung des Phänomens al-Qaradawi bei. Schlimmer noch: Es ist schlicht irreführend, weil der unbefangene Leser nach der Lektüre unweigerlich zum Schluss kommt, das al-Qaradawi die Symbolfigur der Toleranz unter den heutigen Islamgelehrten sei.

Folgenreiche Fehler

Der Kardinalfehler des Buches, der zwangsläufig zu dieser falschen Schlussforderung führt, besteht zweifelsohne in seinem unzulässigen vergleichenden Ansatz: Al-Qaradawi wird nämlich mit noch radikaleren, ja fanatischen salafitischen Predigern verglichen. Dass der omipräsente Scheich dabei viel toleranter erscheint als jene unbelehrbaren Ewiggestrigen, dürfte ja auf der Hand liegen.

​​ Noch problematischer werden die Folgen dieses Vergleichs, wenn al-Qaradawi dadurch zur globalen "Referenzfigur" schlechthin für die viel gepriesene islamische Toleranz erhoben wird.

Doch als Symbol für die islamische Toleranz ist al-Qaradawi wenig tauglich, vor allem aufgrund seiner herabsetzenden, ja intoleranten Haltung gegenüber Andersdenken und religiösen Minderheiten in den islamischen Ländern.

Diese Haltung manifestiert sich an vielen seiner Äußerungen über das Christentum im Allgemeinen sowie über arabische Christen im Besonderen, zuletzt ausgerechnet während der Weihnachtszeit: In einer Freitagpredigt kritisierte al-Qaradawi jene Muslime, die Weihnachten feiern, sie verletzten damit die muslimischen Werte und die islamische Identität, da dies mit dem islamischen Glauben nicht vereinbar sei.

Fast im gleichen Atemzug forderte er jedoch vom Westen, Respekt und Toleranz gegenüber den Muslimen und ihren religiösen Festen entgegenzubringen, und verurteilte lautstark die Stimmungsmache westlicher Rechtspopulisten gegen europäische Muslime.

Bizarre Argumentation

Das tragisch-ironische an dieser Argumentation ist nicht nur die Tatsache, dass al-Qaradawi sich auf dem gleichen Niveau derer bewegt, die er anprangert.

Auch argumentiert er fast haargenau so wie eingefleischte europäische Rechtspopulisten und Hetzer, die gegen Muslime und ihre Grundrechte zu Felde ziehen, mit der Behauptung, die muslimische Sichtbarkeit in den europäischen Einwanderungsgesellschaften stelle eine fundamentale Bedrohung für die christlich-abendländliche Identität dar.

Weihnachtsfest im Libanon; Foto: AP
Wasser auf die Mühlen der Puritaner und Extremisten: In einer Fatwa forderte der 83jährige TV-Prediger al-Qaradawi, dass das Weihnachtsfest in der islamischen Welt verboten werden müsste.

​​Mit dieser bizarren Argumentationskette erweist al-Qaradawi Europas Muslimen einen Bärendienst. Seine Haltung gegenüber Andersdenken wiegt aber auch deshalb schwer, weil sich ein religiöser Rassismus offenbart, der die Grundrechte arabischer Bürger christlichen Glaubens in Frage stellt. Dabei sind arabische Christen in der muslimischen Welt keine Einwanderer, sondern Ureinwohner des Orients.

Wie mögen sich arabische Bürger christlichen Glaubens im Libanon, Palästina, Ägypten, Jordanien und anderen arabischen Ländern fühlen, wenn Scheich al-Qaradawi sie als Bedrohung für die Identität ihrer eigenen Gesellschaften bezeichnet?

Außerdem: Wie kann der bekannte Fernsehprediger ernsthaft behaupten, dass Millionen Muslime in Europa und den USA das Ramadan-Fest und andere islamische Feste nicht feiern dürften? Und dass, obwohl keiner die Freiheiten in Europa zu schätzen weiß wie al-Qaradawi selbst. Denn ohne diese Freiheiten würde al-Qaradawi nicht nach Europa reisen können, um die Sitzungen seiner "Internationalen Vereinigung Muslimischer Rechtsgelehrter" zu leiten, die in den meisten islamischen Ländern nicht stattfinden dürfen!

Es ist mehr als rätselhaft, wie der "ehrwürdige Gelehrte" zu diesen absurden Pauschalurteilen über das muslimische Leben in Europa kommt. Fest steht aber, dass er damit Mindeststandards der Objektivität und Fairness außer Acht lässt.

Khaled Hroub

© Qantara.de 2010

Übersetzung aus dem Arabischen von Loay Mudhoon

Der Publizist und Medienwissenschaftler Khaled Hroub ist Direktor des "Cambridge Arab Media Project" an der Universität Cambridge. Zuletzt erschien sein Buch "Hamas. Die islamische Bewegung in Palästina" 2008 im Heidelberger Palmyra-Verlag.

Qantara.de

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