Der muslimische Jesus

Ein goldfarbenes Mosaik mit drei Männern. Ein Teil des Mosaiks ist beschädigt und von der Wand entfernt worden.
Ein seltenes Bild von Jesus in der Hagia Sophia in Istanbul, die ursprünglich als Kirche erbaut wurde. (Photo: picture alliance | P. Schickert)

Auch Muslim*innen lieben Jesus. Das heißt aber nicht, dass alles gleich ist im Islam und Christentum. Unsere Autorin verfolgt einen koranischen Ansatz, um mit religiösen Unterschieden umzugehen: Gemeinsames betonen, Unterschiede anerkennen.

Von Zeyneb Sayılgan

Muslime lieben Jesus. Das ist den meisten Nicht-Muslim*innen immer noch unbekannt. Ich kenne viele Muslim*innen, die nach 'Isa – dies ist der koranische Name für Jesus – benannt sind. Wenn sie sich an ihn und andere Gesandte Gottes erinnern, sprechen Muslim*innen eine Formel der Verehrung aus: Gottes Friede sei mit ihm und mit ihnen allen.  

Viele Moscheen in den Vereinigten Staaten sind nach dieser heiligen Figur benannt: Die Jesus Son of Mary Mosque in Pennsylvania oder das Jesus Son of Mary Center in Florida sind nur zwei Beispiele dafür, wie Muslim*innen ihre Liebe zu einem der größten Propheten des Islam zum Ausdruck bringen. Dies ist auch eine Möglichkeit, die Verbindung zur christlichen Tradition zu betonen und generell die Beziehungen zur Gemeinschaft zu pflegen. 

Gleichzeitig haben Christ*innen und Muslim*innen unüberbrückbare Differenzen in Bezug auf Jesus. Der muslimische Jesus ist ein von Gott erwählter Prophet, aber ganz und gar ein Mensch.  

Im Islam ist ein Prophet ein außergewöhnliches menschliches Wesen, das frei von schweren Sünden ist, ein Vorbild an Frömmigkeit, Hingabe und mit einem außergewöhnlich rechtschaffenen Charakter, der nur die Wahrheit spricht. Dies ist der höchste geistige Rang, der einem Menschen in dieser Welt verliehen werden kann.  

Der muslimische Jesus ist einzigartig in der Schöpfung, wurde von einer Jungfrau geboren und ist mit der Macht ausgestattet, mit Gottes Erlaubnis außergewöhnliche Wunder zu vollbringen: Er spricht bereits als Säugling, heilt Kranke und Blinde, erweckt Vögel aus Lehm zum Leben und lässt Tote auferstehen.  

Der muslimische Jesus wurde nicht gekreuzigt – dies erschien nur seinen Feinden so. Stattdessen wurde er von Gott gerettet, stieg in den Himmel auf und wird am Ende der Zeiten wiederkehren, um die Mächte des Bösen zu bekämpfen und Gerechtigkeit herzustellen.  

Der Koran nennt Jesus, den Sohn der Maria, und beschreibt ihn als den verheißenen Messias (al-masih). Die muslimischen Schriften nennen ihn den „Geist Gottes“ (ruhullah) und „Gottes Wort“ (kalimatullah). 

Manche Aussagen sind unvereinbar

In meinem eigenen Leben als gläubige Muslimin, die hauptsächlich unter Christ*innen in Deutschland und den USA gelebt hat, habe ich mich bemüht, folgende koranische Haltung gegenüber religiösen Unterschieden zu verkörpern: Bejahung der Gleichheit bei gleichzeitiger Wahrung der Differenz.  

Der Koran besagt, dass alle Gesandten Gottes die gleiche Kernbotschaft hatten: vollständige Hingabe an den einen Gott allein durch starke Überzeugung und gute Taten sowie durch den Glauben an den Tag des Gerichts und moralische Verantwortung im Jenseits. 

Der Koran beschreibt eine von Gott geschaffene Menschenfamilie, die allerdings unterschiedliche Vorstellungen von dem Göttlichen hat. Diese Auffassungen können einander grundlegend widersprechen. Beispielsweise glauben einige, dass Jesus gekreuzigt wurde, andere glauben, dass er nicht gekreuzigt wurde. Beide Aussagen können nicht wahr sein. Der Koran lädt die Menschheit ein, diese Spannung durch einen gesunden und respektvollen Dialog und Disput zu erkunden. 

Die Osterzeit steht vor der Tür und ich nehme die religiösen Feiertage zum Anlass, über diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede nachzudenken. Einige miteinander verflochtene Aspekte fallen mir besonders auf: 

Erstens: Auferstehung

Das zentrale Ereignis von Ostern ist die Auferstehung Jesu Christi, die den Sieg über Tod und Sünde symbolisiert und den Gläubigen Hoffnung auf ewiges Leben schenkt. Jesus ist drei Tage nach seiner Kreuzigung von den Toten auferstanden. Sein Tod und seine Auferstehung werden als das Mittel gesehen, durch das die Menschheit mit Gott versöhnt wird und das Vergebung der Sünden und ewiges Leben bietet. Das Konzept der Erlösung ist eng mit dem Glauben an Jesus als Erlöser verbunden. 

Muslim*innen glauben, dass der Tod allein von Gott bestimmt und ein natürlicher Teil des Lebens ist. Er ist jedoch nicht das endgültige Ende. Jeder Mensch wird am Tag des Jüngsten Gerichts wieder auferstehen. Der Islam betont, dass die Erlösung durch vollständige Hingabe an den Willen Gottes, den Glauben an die Einheit Gottes und rechtschaffene Taten erfolgt. Gemäß Koran besteht die Rolle Jesu bei der Erlösung darin, ein Gesandter Gottes zu sein, der die Menschen dazu aufruft, Gott allein anzubeten, wie in der folgenden Passage zum Ausdruck kommt: 

Und wenn Allah sagt: “O Isa, Sohn Maryams, bist du es, der zu den Menschen gesagt hat: ‘Nehmt mich und meine Mutter außer Allah zu Göttern!’?”, wird er sagen: “Preis sei Dir! Es steht mir nicht zu, etwas zu sagen, wozu ich kein Recht habe. Wenn ich es gesagt hätte, dann wüsstest Du es bestimmt. Du weißt, was in mir vorgeht, aber ich weiß nicht, was in Dir vorgeht. Du bist ja der Allwisser der verborgenen Dinge. (Koran 5:116)  

In beiden Konzepten sehen wir, dass die Menschen zur Unsterblichkeit bestimmt sind. Sie haben eine gemeinsame Sehnsucht nach Vergebung ihrer Sünden und ewigem Leben. 

Zweitens: Hoffnung

Christinnen und Christen sind aufgerufen, jeden Tag im Jahr mit der Hoffnung zu leben, die Ostern symbolisiert. Die Hoffnung auf Auferstehung ist nicht nur für das Leben nach dem Tod bestimmt; sie ist eine Hoffnung, die die Art und Weise, wie Christ*innen in der heutigen Welt leben, verändert. Es ist eine Hoffnung, die ihnen die Kraft gibt, Leiden zu ertragen, sich Herausforderungen zu stellen und im Glauben weiterzuleben, im Wissen, dass Jesus den größten Feind – den Tod selbst – bereits besiegt hat.  

Die Auferstehung gibt Christ*innen die Gewissheit, dass das Leiden in diesem Leben nicht sinnlos ist. So wie auf das Leiden Jesu die Auferstehung folgte, so werden auch die Gläubigen nach ihren Prüfungen Freude und Herrlichkeit erleben. Diese Hoffnung hilft Christ*innen, in schwierigen Situationen durchzuhalten, weil sie wissen, dass Gottes Plan für sie letztlich gut ist. 

Auch für Muslim*innen ist die Hoffnung eine überragende Tugend. Der Islam lehrt, dass jeder Mensch auf die Vergebung Gottes hoffen kann, unabhängig von der Schwere seiner oder ihrer Sünden. Die Hoffnung ist eine spirituelle Disziplin, nach der man leben sollte. Eine positive und hoffnungsvolle Einstellung zum Leben und zur Zukunft bedeutet, Zeugnis von Gottes Mitgefühl, seiner Weisheit und Gerechtigkeit abzulegen. Es bedeutet, auf Gottes Macht zu vertrauen, aus Dunkelheit und Verzweiflung Schönheit und Güte zu schaffen. 

Hoffnung ist die Fähigkeit, in der Ungewissheit Möglichkeiten zu sehen und das Leben nicht als sinn- und zwecklos zu betrachten. Es bedeutet, Trost in Gottes Verheißung eines ewigen und freudigen Wiedersehens mit den Verstorbenen zu finden.  

Christliche und muslimische Gläubige bekräftigen beide, dass die Hoffnung sie befähigt, nach Gottes Willen zu leben, andere zu lieben und eine Kraft für das Gute in der Welt zu sein. Im Geiste dieser gemeinsamen Verpflichtung gegenüber Gott ruft der muslimische Gelehrte Bediüzzaman Said Nursi (gest. 1960) Christ*innen und Muslim*innen auf, zusammenzuarbeiten und ihre Glaubensressourcen für den Aufbau einer besseren Welt zu nutzen, in der alle Menschen gedeihen und sich entfalten können. 

 

Dieser Text ist eine Übersetzung des englischen Originals. Übersetzung von Ronja Grebe. 

 

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