Abschied von der Empathie
Mehr als 24 Stunden waren seit dem Erdbeben am Nordrand der Arabischen Platte vergangen, als Joe Biden am 7. Februar um 21 Uhr Ortszeit im Kapitol vor die Abgeordneten des US-Kongresses trat, um die jährliche Präsidentenrede zur Lage der Nation zu halten. Ausmaß und Folgen des Erdbebens beiderseits der syrisch-türkischen Grenze waren da klar erkennbar. Man wusste, dass Zehntausende unter den Trümmern begraben waren, viele tot und viele damals noch lebendig.
Traditionell sprechen US-Präsidenten bei der State of the Union Address, diesem einzigartigen politischen Ritual, nicht nur von der Lage der eigenen Nation, sondern nutzen die Gelegenheit, um Leitlinien der Außenpolitik und ihre Vision von Amerikas Rolle in der Welt mitzuteilen. Schließlich handelt es sich seit nunmehr 80 Jahren um das mächtigste Land der Erde. Dutzende Millionen von Amerikanern schauen an den Bildschirmen zu, mehr als Deutsche bei einem Fußballspiel.
George W. Bush hatte bei der State of the Union 2002 den Irak, Iran und Nordkorea zur "Achse des Bösen" ernannt, Barack Obama 2015 die Entschlossenheit betont, die Terrororganisation IS zu zerstören, auch zum Wohl der Menschen im Mittleren Osten.
Über das Erdbeben in Syrien und der Türkei verlor Joe Biden am 7. Februar kein Wort. Das Schweigen stand in krassem Missverhältnis zur Dimension der Katastrophe. In diesem Schweigen versteckt sich eine beunruhigende Botschaft. Es drückt einen Abschied von der Empathie aus. "Etwas fehlt." An diese beiden Worte von Bertolt Brecht möchte man denken, nicht nur, weil der Dichter vor dem Kongress in Washington seine ganz eigenen Erfahrungen machen durfte.
Mitgefühl nur für Amerikaner
Mitgefühl mit Millionen trauernden Hinterbliebenen zwischen Aleppo und Gaziantep scheint im politischen Diskurs der Vereinigten Staaten keinen Platz zu haben. Das heißt nicht, dass Biden keine menschlichen Töne hätte anklingen lassen. Aber sie waren ausschließlich nach innen gerichtet. Gut bezahlte Jobs für die hart arbeitenden amerikanischen Familien werde er schaffen und dafür sorgen, dass Medikamente, auch für die zehn Prozent der Amerikaner, die an Diabetes leiden, erschwinglich bleiben.
Die maßgeblichen politischen Akteure der Weltmacht USA, auch der Präsident, sehen ihr Publikum als eine Masse potentieller Trump-Wähler. Diese interessieren sich nun mal nicht für das, was overseas passiert, sei es auch ein Jahrhundertbeben. Und der Middle East ist für sie eh ein rotes Tuch. Die Panik vor den Trump-Wählern steuert die Debatte - und das Schweigen. Der Trend ist seit Jahren spürbar, in der diesjährigen Rede zur Lage der Nation bricht er sich mächtig Bahn.
Es ist ein Bruch mit der Tradition. Ob Ebola-Seuche in Westafrika oder tödlicher Sturm auf den Philippinen, den USA war es in solchen Situationen früher wichtig zu beweisen, dass niemand so große und so schnell einsetzbare Kapazitäten für Hilfsmissionen hat wie sie. Es gehörte zum Gestaltungsanspruch einer globalen Macht, die eben auch eine moralische Autorität für sich reklamierte. Die Welt sollte wissen, dass wir es mit dem Reich des Guten zu tun haben.
Von den hunderttausend Unglücklichen, den an der Brust der Mutter erdrückten Kindern ("welche Sünde haben sie begangen?") und den noch unter den Trümmern Röchelnden schrieb der Philosoph Voltaire nach dem Jahrhundertbeben von Lissabon im Jahr 1755. Sein Gedicht "Désastre de Lisbonne", ein Gründungsdokument der Aufklärung, zeigt den neuen weiten Horizont der Gedanken.
Anteilnahme ist zutiefst menschlich
Es ist ein Aufruf zur Anteilnahme am Leiden der Anderen, auch wenn dieses sich weit entfernt abspielt. Der persische Dichter Saadi (gest. um 1292) hatte 500 Jahre zuvor ähnliches geäußert. Wenn die Leidenden, und seien es ferne Fremde, von den Mitmenschen ignoriert werden, entfremde der Mensch sich von sich selbst, warnte Voltaire.
Die Vereinigten Staaten sind wie kein zweites Land der Welt ein Kind der Aufklärung. Voltaire hat es als Problem beschrieben, wenn Lissabon in Trümmern liegt und Paris derweil tanzt. In diesem Sinn erscheint die von Präsident Biden demonstrierte Gleichgültigkeit wie ein gewaltiger Rückschritt.
Außer dem Erdbeben hat er in seiner Rede noch mehr ausgelassen. Iran, wo Menschen für die Freiheit auf die Straße gehen und den Sturz des amerikafeindlichen Regimes herbeisehnen, erwähnte er nicht. Mit keiner Silbe ging er auf den israelisch-palästinensischen Konflikt ein, der nach dem Amtsantritt der hypernationalistischen Regierung unter Netanyahu, Ben-Gvir und Smotrich schärfer zu eskalieren droht als jemals zuvor.
Dabei kann nach herrschender Meinung niemand außer den USA wirklich auf die streitenden Parteien einwirken. Wer in diesem Konflikt extreme Ziele verfolgt, dürfte sich durch die Nichterwähnung in der State of the Union Address zu neuen Taten ermutigt fühlen.
Zwei Tage nach Bidens Auftritt kündigte die US-Regierung dann Hilfen in Höhe von 85 Millionen Dollar für die Erdbebenopfer an. Amerikanische Suchteams erreichten das türkische Katastrophengebiet. Aber das geschah eher leise. Die vielen Millionen Amerikaner, die der State of the Union Address gelauscht hatten, bekamen das wohl überwiegend nicht mit. Das Entscheidende ist: Sie sollten es nicht mitbekommen.
In Bidens Rede war der Nahe und Mittlere Osten eine komplette Leerstelle. Nun könnte man sagen: Gut so! Nicht wenige haben die USA ja dafür kritisiert, im Namen von Demokratie und Freiheit in den Irak und in Afghanistan einmarschiert zu sein, ohne dass diese hehren Ziele verwirklicht worden wären. Die Berufung auf aufklärerische Werte sei nur ein Deckmantel gewesen, so der Vorwurf. In diesem Sinn könnten die Kritiker jetzt froh sein über die neue Gleichgültigkeit.
Aber so einfach ist es nicht. Die Abwendung vom politischen Gestaltungsanspruch bedeutet keinen totalen Isolationismus. Militärisch sind die USA weltweit präsenter denn je. In Norwegen etwa und im Pazifik werden neue Basen hochgerüstet. Die ukrainische Armee wird so mit Waffen beliefert, dass sie dem russischen Angriff widerstehen kann. Das erwähnte Biden kurz am Rande.
China ist der große Gegner, das machte der Präsident in seiner Rede sehr wohl klar. Viele Worte brauchte er auch dafür nicht. Vor seinem Amtsantritt sei die Rede davon gewesen, dass China seine Macht in der Welt auf Kosten der USA ausdehne. "Not anymore!" erklärte Biden und versicherte, dass Amerika zuschlagen werde, wann immer ein Angriff auf "unsere Souveränität" stattfinde.
Das hörte sich an wie die Reduktion der Außenpolitik auf den Kampf der Giganten. Wenn der Humanismus auf das eigene Staatsvolk begrenzt, nach außen die soft power gestrichen und nur auf hard power gesetzt wird, dann wird unweigerlich die Bereitschaft steigen, im Militärischen bis zum Äußersten zu gehen.
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Der Autor arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Magazin Panorama.