Die Geburtsstunde des Jihadismus?

Winston S. Churchills Kriegsbericht aus dem Sudan wird wiederentdeckt. Die Herausgeber apostrophieren den sudanesischen Aufstand Ende des 19. Jahrhunderts gegen die anglo-ägyptische Herrschaft in den Sudan-Provinzen als Beginn des islamistischen Jihadismus. Joseph Croitoru hat das Werk gelesen.

Mahdisten in der Schlacht von Omdurman im Jahr 1898, historisches Gemälde von Robert Kelly; Foto: Wikimedia Commons
Historisches Gemälde von Robert Kelly: Bei der "Schlacht von Omdurman" verloren die Truppen des Mahdi-Nachfolgers Abdullahi Bin Sayyid gegen die anglo-ägyptische Armee.

​​Für die Übersetzung eines Kriegsberichts aus dem Englischen ins Deutsche nach über hundert Jahren muss es einen guten Grund geben. Allein der Umstand, dass es sich dabei um das Werk eines prominenten Politikers und Schriftstellers wie Winston S. Churchill handelt, dürfte wohl kaum ausschlaggebend gewesen sein.

Den erhellenden Hinweis liefert hier der Klappentext der im Eichborn Verlag erschienenen, von dem heute in Nairobi lebenden schweizerischen Publizisten Georg Brunold übersetzten, edierten und mit einer Einleitung versehenen deutschen Ausgabe:

"Im Aufstand des Mahdi (1881-1885) zeigt der Islam erstmals das moderne Gesicht einer radikalen politischen Kraft: des militanten Fundamentalismus, wie wir ihn heute zu kennen glauben. Mohammed Ahmed, der Mahdi und Stellvertreter Gottes auf Erden, erobert den Sudan und errichtet ein islamisches Kalifat."

Ein reißerischer Titel

Die knapp 450 Seiten umfassende Publikation liegt damit voll im Trend, denn im Westen wird der damalige Sudan-Krieg und mit ihm auch Churchills einschlägiges Werk in letzter Zeit wiederentdeckt. Und wie bei manchen der bereits erschienenen anderssprachigen Übersetzungen der Fall wurde auch für die deutsche des ursprünglich 1899 auf Englisch erschienenen Werks "The River War. A Historical Account of the Reconquest of the Soudan" ein reißerischer Titel gewählt: "Kreuzzug gegen das Reich des Mahdi".

Winston Churchill in der Downing Street 10 im Jahr 1953; Foto: AP
Winston Churchill war nicht nur britischer Premierminister, sondern auch Literaturnobelpreisträger. 1953 hat er den Preis für seine historischen Werke erhalten.

​​Dabei macht Brunold in seiner vorzüglich geschriebenen Einleitung über Churchills Erfahrung im Sudan, die auch die moderne und jüngste Geschichte des Landes aufrollt, darauf aufmerksam, dass der militante Islam im 19. Jahrhundert schon lange vor dem sudanesischen Aufstand in Erscheinung getreten war. Dem sachlichen Ton des Autors und des Übersetzers wird indessen der im deutschen Titel verwendete Begriff "Kreuzzug" keineswegs gerecht. Dieser soll offenbar mit aktuellen Assoziationen Aufsehen erregen, zumal sich hier unwillkürlich der Gedanke an George W. Bushs "Kreuzzug" gegen den Terror aufdrängt.

Ein kolonialistischer Kreuzzug?

Aber der Feldzug der zunächst vertriebenen ägyptisch-britischen Besatzer gegen den sudanesischen Mahdi-Staat war – und gerade davon legt Churchills Kriegsbericht ausreichend Zeugnis ab – alles andere als ein Kreuzzug: Er war nicht religiös, sondern kolonialistisch motiviert. Den Kolonialismus mit Kreuzzügen zu assoziieren, ist historisch falsch – islamische Fundamentalisten von Sayyid Qutb bis Osama Bin Laden tun dies ohnehin schon häufig genug.

Churchill hatte sich von der in England betriebenen Dämonisierung des Mahdis und dessen Weggefährten und Nachfolgers Abdullahi Bin Sayyid nicht beirren lassen. Wie weit diese Verteufelung tatsächlich ging, bleibt dem Leser allerdings weitgehend verborgen, er muss sich mit einigen wenigen Andeutungen des Verfassers begnügen, der diese westliche Darstellung als tendenziös kritisiert. Für Churchill, so ist in Kapitel 17 nachzulesen, war jedenfalls der Mahdi, dem er nie persönlich begegnet war, "ein Mann von unbestreitbar edler Gemütsart, ein Priester, ein Soldat und ein Patriot".

​​Der nationale Befreiungskrieg der Sudanesen gegen die von den Briten unterstützten ägyptischen Besatzer wurde aus Sicht Churchills nicht so sehr aus religiösen Gründen geführt, sondern zuallererst wegen des ihnen zugefügten Unrechts. Die Berufung der Aufständischen auf den Heiligen Krieg sei, so schreibt er, zwar das "Erkennungsmerkmal", der "Verstärker", aber "nicht die Ursache".

Apologie des britischen Kolonialismus

Dennoch: Trotz aller kritischen Distanz bleibt der Kriegsberichterstatter Churchill ein Apologet des britischen Kolonialismus und somit ein Kind seiner Zeit. Die ersten fünf Kapitel seines Buches, die das Geschehen im Sudan und die englische Verwicklung bis zum Beginn des Sudanfeldzugs im Jahr 1896 behandeln, basieren ohnehin auf den damals bereits vorliegenden Darstellungen seiner entsprechend gepolten westlichen Zeitgenossen. Über die Beschaffenheit des Mahdi-Staates, des "Kalifats", erfährt man kaum etwas.

Dass der religiöse Glanz der Mahdi-Bewegung mit dem frühen Tod ihres Anführers im Jahr 1885 ermattet war und diese sich unter Abdullahi zu einer Militärdiktatur entwickelte, reicht dem Autor allerdings nicht als Erklärung für die Stärke des sudanesischen Herrschaftssystems unter dem Nachfolger des legendären Mahdi. Diese führt er vielmehr auf Abdullahis geschickt aufgebautes Beziehungsnetz zu den lokalen Emiren zurück. Gleichwohl ist auch Churchill der Ansicht, dass die Sudanesen vor allem auch von ihrem eigenen Herrscher unterdrückt werden; was wiederum den Kolonialherren – und auch Churchill – als Rechtfertigung für den Sudan-Feldzug dient.

Die Einzelheiten über dessen Verlauf schildert der Autor, der überhaupt erst im Sommer 1898 in den Sudan kam und an dem Krieg also nur in dessen Endphase als Kavallerie-Leutnant teilnahm, so gut wie ausschließlich aus militärischer Sicht.

Ein nüchterner Berichterstatter

Mohammed Ahmed Al-Mahdi; Foto: Wikimedia Commons
Der "Mahdi"- Mohammed Ahmed - war der Anführer der ersten Aufstände gegen die anglo-ägyptische Regierung im Sudan. Seit seinem ungeklärten Tod 1885 wird er im Sudan als "Vater der Unabhängigkeit" betrachtet.

​​So enthalten Kapitel 6 bis 16 neben minutiösen Beschreibungen des Aufbaus der Versorgungsinfrastruktur, hauptsächlich der entlang des Nils immer weiter nach Süden ausgebauten Eisenbahnlinie, detaillierte Schilderungen kleinerer und größerer Schlachten – die meisten hatte Churchill wohl anhand von Gesprächen mit daran beteiligten Militärs rekonstruiert.

Diese Passagen, die den Löwenanteil des Buches ausmachen, dürften wohl eher Spezialisten interessieren, von denen die meisten das Werk in der weitaus umfangreicheren Originalversion – bei der deutschen Übersetzung handelt es sich um eine stark gekürzte Fassung – schon kennen dürften. Churchill zeichnet sich auch bei der Darstellung der selbst erlebten Gefechte als nüchterner Berichterstatter aus, der sich von keiner Propaganda vereinnahmen lässt.

Respekt vor dem Mut der sudanesischen Kämpfer

Dem Mut der sudanesischen Kämpfer zollt er großen Respekt. Von der weit überlegeneren Feuerkraft der mit den damals modernsten Waffen – von Kanonenbooten bis hin zu Maschinengewehren – ausgerüsteten Invasoren ist der Autor zwar fasziniert, aber auch spürbar entsetzt.

Unter diesem Eindruck steht denn auch Churchills Bericht über die Folgen der am 2. September 1898 stattgefundenen blutigen Entscheidungsschlacht bei Omdurman, dem Regierungssitz des mittlerweile geflohenen sudanesischen Herrschers Abdullahi, die den drei Jahre dauernden Rückeroberungskrieg der Kolonialherren abschloss.

Die Grauen des Krieges

Allein schon die Opferzahlen, die der Verfasser für diese entscheidende Schlacht nennt, zeugen von einem, wie man heute sagen würde, asymmetrischen Krieg: Während Ägypter und Briten zusammen insgesamt 482 getötete und verletzte Soldaten zu beklagen hatten, verloren die Sudanesen 9700 Kämpfer, dazu kamen noch einmal weit über 10000 Verletzte. Die Schilderung des Schicksals letzterer, von denen die meisten unversorgt auf dem Schlachtfeld liegenblieben und – zum Teil tagelang – qualvoll starben, gehört zu den bewegensten Passagen des Werkes, das hier fast schon zu einem Antikriegsbuch gerät.

Aber eben nur fast. Denn trotz Churchills Kritik an der Zerstörung des Mahdi-Grabs durch den britischen Oberbefehlshaber Kitchener und der Schändung seiner Überreste, rechtfertigt der Autor den Sudan-Krieg mit den damals üblichen kolonialistischen Parolen: Die Rede ist von der Befreiung von der Tyrannei und dem sie bald ablösenden zivilisatorischen Fortschritt.

Zu guter Letzt appelliert er an die Vernunft der Sieger. Was die Sudanesen nun bräuchten, seien keinesfalls Scharen westlicher Missionare oder Spekulanten, sondern vor allem Ruhe, um das Land Schritt für Schritt wieder aufzubauen: Unter britischer Verwaltung, versteht sich.

Joseph Croitoru

© Qantara.de 2008

Winston S. Churchill: Kreuzzug gegen das Reich des Mahdi. Übersetzt und ediert von Georg Brunold ist im beim Eichborn Verlag erschienen

Qantara.de

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