Der alltägliche Antisemitismus in der Türkei

Eine zerbrochene Glasscheibe mit dem Judenstern nach einem Anschlag auf eine Synagoge in Istanbul
Bei zwei verheerenden Terroranschlägen auf Synagogen in Istanbul im November 2003 sind damals mindestens 20 Menschen getötet worden, Foto: epa Tolga Bozoglu via dpaweb/dpa/picture alliance.

Wo liegt der Ursprung antisemitischer Ideologien in Politik, Medien und Gesellschaft in der Türkei? Und welche Auswirkungen hat dies auf die heutige Tagespolitik? Ein neues Buch liefert Antworten.

Von Gerrit Wustmann

Als der türkische Dauerpräsident Recep Tayyip Erdogan sich im April demonstrativ mit Hamas-Funktionär Ismail Hanija und dessen Delegation in Istanbul traf, sorgte das insbesondere in der EU, den USA und Israel für nachvollziehbare Empörung. Die palästinensischen Terroristen sind für Erdogan eine „Widerstandsorganisation“.

Man könnte das bei einem flüchtigen Blick für ein machttaktisches Manöver halten, mit dem Erdogan von dem schwindenden Rückhalt seiner Partei bei den türkischen Bürgern ablenkt sowie von seiner katastrophalen Wirtschaftspolitik, die das Land in eine ausufernde Inflation getrieben hat. Tatsächlich aber hat Erdogans Antisemitismus eine lange Tradition, die mehr als hundert Jahre zurückgeht, und aus der der Staatschef selbst nie einen Hehl gemacht hat – im Gegenteil.

Antisemitische Feindbilder und israelbezogenen Antisemitismus gibt es in der Türkei heute allerdings nicht nur bei rechten und islamistischen Akteuren in der Politik, sondern im gesamten politischen Spektrum bis ganz nach links, in den Medien, der Kultur. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Das zeichnen die 30 Aufsätze kenntnis- und detailreich nach, die Corry Guttstadt für die Anthologie „Antisemitismus in und aus der Türkei“ gesammelt hat. Der knapp 550 Seiten umfassende Band wird von der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg herausgegeben und kann dort auch bezogen werden.

Frühe Anerkennung Israels

Schon gegen Ende des Osmanischen Reiches wurden antisemitische Klischees am Bosporus salonfähig. Trotzdem erkannte die Türkei 1949 Israel an – als erster islamisch geprägter Staat. Das sei aber, so Duygu Atlas, vor allem aus taktischen Erwägungen und der Ablehnung des kommunistischen Blocks während des Kalten Krieges geschehen. Atlas forscht in Tel Aviv und Jerusalem zu kurdischen und jüdischen Minderheiten in der Türkei. „Zunächst herrschte bei säkularen Kemalisten und in linken Kreisen eine gewisse Sympathie für Israel“, schreibt sie, ein größeres Feindbild seien damals die Araber gewesen. Den Judenhass von islamistischen Intellektuellen wie Necip Fazil Kisakürek gab es da aber längst. Auf ihn bezieht sich der heutige Staatschef Erdogan oft und gern, ebenso wie auf seinen politischen Ziehvater Necmettin Erbakan. Beide hingen der Vorstellung an, das Ende des Osmanischen Reiches sei eine jüdische Verschwörung gewesen – ein Narrativ übrigens, das in weniger gebildeten Kreisen der Türkei auch deshalb geglaubt wird, weil Politiker und rechte Medien es so gern und oft wiederholen. Svante E. Cornell schreibt: „Obwohl die Gründer der AKP mit Erbakan brachen, verwarfen sie nie seine Weltsicht des Verschwörungstheoretikers. Noch bezeichnender ist, dass sie nie mit Kisakürek brachen, den Erdogan und fast die gesamte AKP-Führungsriege bis heute glorifizieren.“

Ein regelrechter Hass auf den israelischen Staat etablierte sich nach dem Sechstagekrieg 1967, ein Hass, der seinen Höhepunkt aber nicht durch Rechtsradikale fand, sondern durch die linksextreme THKP-C.

„Ein regelrechter Hass auf den israelischen Staat etablierte sich nach dem Sechstagekrieg 1967.

Im Mai 1971 entführte sie den damaligen israelischen Generalkonsul Efraim Hofstaedter Elrom und ermordete ihn wenige Tage später. Elrom war maßgeblich an der Ergreifung von Adolf Eichmann beteiligt gewesen. Die Entführer wählten ihn, weil sie an ihn leichter herankamen als an die Vertreter der USA oder Irans, die sie ebenfalls ausgekundschaftet hatten als Repräsentanten dessen, was für sie der westliche Imperialismus war (zur Zeit des Schah-Regimes war Iran ein Verbündeter der USA). Seyda Demirdirek zeichnet Elroms Leben und Wirken nach bis hin zu seiner Ermordung – und man könnte meinen, heutigen Linken in der Türkei müsste daran gelegen sein, dieses finstere Kapitel aufzuarbeiten oder, wahlweise, unter den Teppich zu kehren. Stattdessen, so erfahren wir, werden die Namen von Elroms Mördern noch heute drohend auf antiisraelischen Demos skandiert.

Diskreditierung politischer Gegner

Wer in der heutigen Türkei seine politischen Gegner diskreditieren will, der dichtet ihnen an, Juden oder Armenier zu sein. Das ist sogar Akteuren wie Erdogan oder seinem einstigen Verbündeten Fethullah Gülen schon passiert: Mitunter fällt der Antisemitismus auf jene, die ihn verbreiten, zurück (interessant in diesem Kontext auch die Nachzeichnung antisemitischer Passagen in Gülens Büchern, die in den deutschen Übersetzungen offenbar gestrichen wurden). Und während der Genozid an den Armeniern geleugnet wird, wird der Holocaust hingegen mitunter gutgeheißen.

„Während der Genozid an den Armeniern geleugnet wird, wird der Holocaust hingegen mitunter gutgeheißen.“

Nicht nur an den radikalen Rändern der Politik. Liz Behmoaras hat antisemitische Klischees in Werken populärer türkischer Autoren untersucht und diese dann in Interviews darauf angesprochen, um zu sehen, ob das Fiktionale der tatsächlichen Haltung der Verfasser entspricht. Einer von ihnen war Aziz Nesin. Der linksgerichtete Satiriker und Romancier (1915-1995) ist einer der meistgelesenen türkischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Behmoaras zitiert ihn mit folgender Antwort auf ihre Nachfrage: „Die Juden legen ein Verhalten an den Tag, welches das rechtfertigt, was Hitler ihnen angetan hat.“

So sehr sich die politischen Parteien und Gruppen in der Türkei regelmäßig bekämpfen und bekriegen, müssten sie sich gezwungenermaßen auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner einigen, dann wäre es der Antisemitismus, den sie fast durchweg teilen. Antisemitismus, so Karel Valansi, ist in der Türkei alltäglich. Es gibt zwar, auch das wird im vorliegenden Buch beleuchtet, zivile Gegenbewegungen, aber sie sind vergleichsweise klein und haben meist einen schweren Stand. Schon deshalb, weil sie mit Fakten zu argumentieren versuchen, und das prallt an Personen mit festgefügten Vorurteilen und in Verschwörungsnarrativen verhaftetem Denken oft einfach ab. Corry Guttstadts wichtiges und wegweisendes Buch ist ein Beitrag dazu, vor all dem nicht länger die Augen zu verschließen. Und es ist ein wichtiges Grundlagenwerk zu einem bislang kaum beachteten Thema.

Gerrit Wustmann

© Qantara.de 2024

Gerrit Wustmann ist freier Schriftsteller und Journalist. Er hat die Bücher "Hier ist Iran! Persische Lyrik im deutschsprachigen Raum" und "Stimmen der Freiheit. Zur Freiheit des Wortes in der Türkei" herausgegeben, 2021 erschien das Sachbuch "Weltliteratur. Warum wir ein neues Literaturverständnis brauchen".