Flucht in den Orient
Von den "urwüchsigen, wilden Arabern" der Wüste war die Britin Gertrude Bell besonders angetan. Bei den modernen Städtern sah sie hingegen den verderblichen Einfluss des Westens am Werk, eine ungesunde, der Natur entgegenstehende Dekadenz. Es war schließlich nicht zuletzt die europäische Moderne mit ihren als lästig empfundenen Nebenwirkungen, die Gertrude Bell zu ihren Reisen antrieb. Bell wurde 1868 in eine der wohlhabendsten Industriellenfamilien Englands hineingeboren. Ihr Großvater war als Kohlengrubenbesitzer und Eisenfabrikant zu enormem Reichtum gekommen. Der Offenheit ihres Vaters verdankte sie eine zu ihrer Zeit für Mädchen alles andere als selbstverständliche Bildung. Ein Geschichtsstudium in Oxford schloss sie als erste Frau 1888 mit Auszeichnung ab.
Mit Cook und Baedeker auf Reisen
1892 brach Gertrude Bell zu ihrer ersten Reise in den Orient auf. Während die Reisenden des 18. Jahrhunderts noch unter großer Gefahr für Leib und Leben und unter enormer körperlicher wie finanzieller Belastung die Fremde erkundeten, erleichterten im späten 19. Jahrhundert bereits regelmäßige Dampfschifffahrtslinien zwischen Europa und dem östlichen Mittelmeer sowie erste Eisenbahnstrecken das Reisen.
Thomas Cook hatte 1845 in England das erste Reisebüro eröffnet, und Karl Baedekers 1827 in Koblenz gegründeter Verlag für Reisehandbücher gab die nötigen Informationen mit auf den Weg. Bells Reise war nicht zuletzt eine Flucht vor der gesellschaftlichen Strenge des viktorianischen Englands, die sie über Paris, München und Wien zunächst nach Konstantinopel und dann über Georgien nach Persien führte.
Den "unverdorbenen" Orient entdecken
"Ach, gäbe es nicht diese Konvention", notierte sie in ihren Reiseaufzeichnungen, die 1894 in London erschienen, "wie oft würde man neben einem Menschen aus Fleisch und Blut sitzen, statt neben einem bloßen Frack!" Unverdorbene Menschen aus Fleisch und Blut hoffte sie im Orient zu finden, der (noch) nicht in das enge Korsett der Moderne gezwängt war. Die vorgebliche Einfachheit des orientalischen Lebens, nach dem sie sich so sehnte, mochte sich Bell jedoch nicht persönlich zu eigen machen: Sie reiste mit großer Entourage und führte unter anderem drei Köche, zwanzig Diener und eine ganze Karawane aus Maultieren mit sich. Zugleich mokierte sie sich über die Ignoranz anderer Reisender.
"Manche Leute", beklagte sie die frühen Auswüchse des Tourismus, "grasen die ganze Welt nur nach den besten Hotels ab; begeistert erwähnen sie, dass sie kürzlich durch Russland gereist sind, aber wenn du sie ausfragst, wirst du feststellen, dass sie nichts weiter zu erzählen haben, als dass sie es in Moskau tatsächlich genauso bequem hatten wie daheim, sogar noch üppiger, denn auf der Tafel ihrer Hotels gab es drei Sorten Wildpret." Für Bell war der Orient eine Traumwelt von faszinierender Unergründlichkeit, wie sie sie schon als Kind in den Erzählungen aus 1001 Nacht kennen gelernt hatte.
"Das Morgenland", schwärmte sie, "ist voller Geheimnisse" und "hinreißender Überraschungen." Der Orient sollte seine Exotik nicht verlieren. Schon Théophile Gautier hatte seiner Befürchtung Ausdruck verliehen, dass die "pittoreske Barbarei durch unsere schale Zivilisation zugrunde gerichtet" werden könnte. Als Bell in Persien einem indischen Prinzen begegnet, zeigt sie sich entsprechend verunsichert wegen dessen Geheimnislosigkeit und ist tief enttäuscht über dessen passables Englisch: "Es zerstört irgendwie das Lokalkolorit der Szene."
Im Dienste der Briten und der Iraker
Trotz dieser partiellen Entzauberung blieb Bells erste Orientreise nicht ihre letzte. Bald schon bereiste sie Palästina, den Libanon und Syrien. "Man kann vom Orient nicht mehr lassen, wenn man einmal so tief in ihn vorgedrungen ist", schrieb sie an ihren Vater. Ein Archäologe, den sie in Paris kennen lernte, weckte ihr Interesse an der Wissenschaft, und in den folgenden Jahren veröffentlichte sie zahlreiche archäologische Bücher und Aufsätze, die ihr die Anerkennung der Fachwelt einbrachten. Während des Ersten Weltkriegs arbeitete sie dann für den britischen Geheimdienst, zunächst in Kairo, später in Bagdad und Basra.
Im Irak unterstützte sie den Haschemiten Faisal bei dessen Ambitionen auf den Thron, und wurde, nachdem er 1921 König geworden war, seine Beraterin. Gleichzeitig baute sie das Nationalmuseum in Bagdad auf. Vielleicht waren ihr Arbeitspensum, ihre Vielseitigkeit und ihre Rastlosigkeit nur verschiedene Seiten ihres Fluchtimpulses. Kurz vor ihrem 58. Geburtstag starb Gertrude Bell im Juli 1926 in Bagdad an einer Überdosis Schlafmittel.
Andreas Pflitsch
© Qantara.de 2005