"Gegen den Strom"
Die meisten Deutschen leiden unter dem israelisch-palästinensischen Konflikt. Die Berichterstattung über Gewalt und Gegengewalt ermüdet sie. Die offizielle Propaganda beider Seiten langweilt sie. Die Israelis stellen Buswracks zur Schau, die Palästinenser zerstörte Häuser, beide Seiten ihre toten Zivilisten. Und die meisten Deutschen schauen weg.
Amira Hass sprengt dieses Ritual. Die einzige israelische Journalistin, die in den Palästinensergebieten lebt, nimmt die Realität in der Westbank unter die Lupe, bringt Fakten, lässt Menschen zu Wort kommen und macht damit den komplexen Nahostkonflikt begreifbarer: Das Scheitern von Camp David, die Selbstmordanschläge, die Gedanken eines israelischen Scharfschützen, die Logik der palästinensischen Militanten, den enormen Widerstand beider Völker gegen jegliche Selbstkritik, ihre feste Überzeugung, dass nur der Einsatz von noch mehr tödlicher Gewalt die Gegenseite zur Vernunft bringen werde.
Schicksal der Mutter als Vorbild
1991 begann Amira Hass, für die links-liberale israelische Tageszeitung "Haaretz" aus Gaza zu berichten. 1993 zog sie sogar aus eigenem Wunsch dorthin. Dort verfasste sie auch ihr erstes Buch "Gaza - Tage und Nächte in einem besetzten Land". Danach zog sie nach Ramallah.
Getrieben wurde sie von der Erfahrung ihrer Mutter im Holocaust, die ihr eigenes Weltbild prägte. Hannah Hass marschierte an einem Sommertag 1944 vom Zug ins Konzentrationslager Bergen-Belsen. Nach einer zehntägigen Zugfahrt in einem Viehwaggon waren die Häftlinge todkrank. Einige deutsche Frauen schauten vom Straßenrand dem Transport der Juden gelangweilt zu. Die Angst, selbst passive Zuschauerin des Leidens Anderer zu werden, treibt Hass täglich.
Parteilichkeit für die einfachen Menschen
Die 47-jährige Journalistin macht keinen Hehl daraus, dass sie Partei für die einfachen Palästinenser ergreift, nicht für Jassir Arafats Regime. Objektiv und fair zu sein ist für sie etwas anderes.
Journalismus sei vor allem die Kontrolle der Mächtigen, und das sind die israelischen Behörden, nicht die Palästinenser. Der Ausgangspunkt ihrer Arbeit ist ihre tiefe Opposition zur israelischen Besatzung, die ihrer Meinung nach durch die Osloer Verträge fortgesetzt werden sollte, nur in raffinierterer Form.
Mit ihrer Ansicht steht sie ziemlich allein in der Israel, genießt aber weiterhin die volle Kooperation der Armee, die ihr niemals Informationen verweigert und sie sogar einlud, vor Offizieren einen Vortrag über das Verhalten der Soldaten an Straßensperren zu halten.
Kein zusammenhängender Staat
Der Camp-David-Gipfel scheiterte nicht, wie die Israelis behaupten, weil Arafat Baraks großzügiges Angebot ablehnte, sondern weil dieser Vorschlag einen lebensfähigen Palästinenserstaat unmöglich machen würde. Weil Israel große Siedlungsblöcke behalten will, meint Hass, muss die Westbank in drei voneinander getrennte Kantone geteilt werden: Der Norden, der Süden und Ost-Jerusalem.
Die verbindenden Straßen sollten demnach unter israelischer Oberhoheit bleiben. Gleichzeitig dehnt sich die Siedlung Maale Adumim bei Jerusalem, die Sharon niemals räumen will, (so erklärte er neuerdings), auf inzwischen 5.300 Hektar aus, größer als die Stadt Tel Aviv. In Maale Adumim leben 25.000 Menschen, in Tel Aviv 360.000.
Verschiedene Gründe für die Intifada
Die bewaffnete Intifada brach im Herbst 2000 aus drei Gründen aus: Erstens war es die Wut gegen die israelische Ausdehnung der Siedlungen parallel zu den Friedensverhandlungen. Hinzu kam der Ärger auf die korrupten und politisch unfähigen palästinensischen Funktionäre, die zu Wohlstand gekommen waren. Schuld trägt auch Arafats Behörde, die die Gewalt duldete, um ihre Position bei den Verhandlungen mit Israel zu verbessern.
Die massive Reaktion der israelischen Streitkräfte, die in den ersten Tagen der Intifada töteten, legitimierte für die Palästinenser den Einsatz von Waffen und ließe das verloren gegangene Vertrauen in Arafats Behörde zurückkehren.
Auch die starke Konkurrenz zwischen den weltlichen Al-Aqsa-Brigaden und der islamisch geprägten Hamas um Anhänger trug zur Eskalation bei - genauso wie die Tatenlosigkeit der Palästinenserbehörde, die nicht einmal versuchte, die Gewalt einzudämmen. Sie ließ die aufgebrachten Palästinenser Rache für die getöteten Kinder und Zivillisten üben.
Bis wann ist ein Palästinenser ein Kind?
Obwohl Israelis in diesem Buch kaum zu Wort kommen, abgesehen von den lapidaren Stellungnahmen des Armeesprechers, bietet ein Gespräch mit einem anonymen israelischen Scharfschützen interessante Einblicke in die Mentalität der Armee, ohne sie pauschal zu diffamieren.
Nach einem tödlichen Anschlag auf Israelis "lassen sie dich mehr schießen", gibt er zu. Manche Soldaten, nicht er, seien "versessen aufs Schießen". Auf Kinder zu schießen, verbiete die Armee jedoch, ein Verbot, das "sehr oft" ausgesprochen werde. "Mit welchen Worten", fragt Hass. "Auf Kinder unter zwölf wird nicht geschossen", antwortet der Soldat. "Ab zwölf ist es erlaubt. Dann ist es kein Kind mehr." Der Armeesprecher hingegen wollte das genaue Alter, bis wann ein Palästinenser offiziell als Kind gilt, nicht nennen.
Die Unfähigkeit der Fatah
Auch Palästinenser reden offen mit ihr. Einer schimpft auf die Militanten, sie seien "Kinder, halbe Analphabeten, leichtsinnige Amateure, die dazu gedrängt werden, die Helden zu spielen". Der Grund sei, dass in der größten Fatah-Bewegung von Arafat ein heilloses Durcheinander herrsche.
Die vier gesuchten Kämpfer der Al-Aqsa-Brigaden versuchen, Zuversicht auszustrahlen, räumen aber ein, dass die Verhaftung von Mitkämpfern ein so schwerer Schlag für sie sei, dass sie schon nach Ausstiegsmöglichkeiten suchten. Sie selbst rechtfertigen die Tötung israelischer Zivilisten mit dem Argument, auch Israel respektiere die palästinensischen Zivilisten nicht.
Schon im September 2000 stellte Hass eine Frage, die derzeit immer wichtiger wird: Wie wird Israel nach einem Zusammenbruch der Autonomiebehörde mit den palästinensischen Massen umgehen, die sich "Allah und seinen Abgesandten auf Erden - der Hamas – anschließen"? Ihre damalige Warnung, dass die palästinensischen Sicherheitskräfte die Hamas nicht auf ewig werde bändigen können, hat sich traurigerweise bereits erfüllt.
Hoffnungsschimmer am Horizont
Wer glaubt, der Hass zwischen Israelis und Palästinensern sei grenzenlos und die beiden Völker hätten keine gemeinsame Zukunft, wird hier gelegentlich positiv überrascht. Nicht nur senden manche Israelis ihren ehemaligen palästinensischen Arbeitern Geld zum Überleben, bis sie wieder arbeiten können.
Im Flüchtlingslager Daheisheh lernen Palästinenser sogar freiwillig Hebräisch. Der Lehrer, ein Journalist, hat die Sprache vor Jahren im Gefängnis gelernt. "Arabisch und Hebräisch sind verwandte Sprachen", erklärt er und erinnert daran, dass die Bibel auf Hebräisch geschrieben wurde. Einer der Schüler, ein palästinensischer Sicherheitsbeamter, nimmt an diesem Unterricht teil, weil er glaubt, dass es eines Tages wieder eine Zusammenarbeit mit den Israelis geben werde.
Igal Avidan
© Qantara.de 2004
Gegen den Strom - Amira Hass, Bericht aus Ramallah - eine israelische Journalistin im Palästinensergebiet. Diedrichs Verlag, München, 231 Seiten, 19,95 Euro.