Orientalische Bildwucherungen

Der Islamwissenschaftler Wolf-Dieter Lemke zeigt in seinem Text- und Bildband "Staging the Orient" auf eindrucksvolle Weise Orientbilder aus dem Zeitalter ihrer Popularisierung.

Von Andreas Pflitsch

Nicht nur die Schönheit entsteht im Auge des Betrachters. Was wir "wahrnehmen", verweist immer auch auf uns selbst.

Das auf dem Umschlag des Bildbandes "Staging the Orient" von Wolf-Dieter Lemke abgebildete Stereoskop, mit dem eine doppelt aufgenommene Photographie als dreidimensionales Bild erscheint, hätte nicht besser gewählt sein können, um die Diskrepanz zwischen Bild und Wirklichkeit zu versinnbildlichen.

Historischer Tunnelblick

Im Spannungsfeld von getreuem Abbild, Klischee und Phantasie lotet der Band die europäische Vorstellung vom Orient im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert aus. Es ist ein ganz besonderer Tunnelblick, der unsere Sicht auf den Orient durch die Geschichte bestimmt hat.

Im Zeichen der Kritik am Orientalismus wurde dem selbstgerechten Eurozentrismus längst der Prozess gemacht und der schuldig gesprochene Westen zu erhöhter Selbstreflexivität verurteilt. So hat sich inzwischen herumgesprochen, dass sich der "Westen" in – meist diskriminierender – Abgrenzung von einem weitgehend imaginierten Gegenüber, den er als "Orient" zugleich verteufelt und bewundert hat, selbst erfand.

Die fragile Dialektik dieser Identitätsfindung unterlag manchen historischen Verwerfungen und veränderte wiederholt ihre Vorzeichen und Themen, so dass es schwierig wäre, eine Kontinuität zu behaupten, die über den Mechanismus selber hinausgeht.

Popularisierte Orientbilder

Lemke erdet mit dem von ihm sorgfältig und durchdacht vorgelegten ​​Material das abgehobene, postkoloniale Theoretisieren, indem er einen vergleichsweise kleinen - aber bis in unsere Zeit fortwirkenden - Ausschnitt des uferlosen Komplexes beleuchtet: die Popularisierung der Orientbilder im Europa des "Fin de siècle", als die Flut der Bilder anstieg, die revolutionäre Erfindung der Photographie in voller Blüte stand und die entstehende Konsumgesellschaft sich anschickte, einen Massengeschmack zugleich zu züchten und zu bedienen.

Wie der Orient zu dieser Zeit inszeniert wurde, wie sich Bildwucherungen von der akademischen Malerei des Orientalismus über bürgerlichen Imponiergeschmack bis in die Ikonographie der Werbung erstreckten und sich auch in Architektur, Mode und Literatur niederschlugen, zeigt der Band anhand einer stupenden Fülle von Beispielen. Ein erstaunliches Werk hat der Autor, Bibliothekar des Orient-Instituts in Beirut und Istanbul, vorgelegt.

Überbordende Sinnlichkeit

Der Orient der Belle époque ist sinnlich, er funkelt und betört. Er verheißt Luxus, Schönheit und Pracht. Er ist edel, hedonistisch bis zur Ausschweifung und verführerisch bis ins Delirium, die utopische Überhöhung all dessen, was man sich nur wünschen konnte und an das doch in der Realität nicht einmal zu denken war.

Schwül-erotische Haremsphantasien, opulente Szenarien überbordender Sinnlichkeit, pittoreske Sklavenmärkte und blutige Palastrevolten bildeten das Inventarium der Malerei. Das anbrechende Zeitalter des Bildes war aber vor allem eines der Photographie, die mit dem – im doppelten Wortsinne – ungeheuren Anspruch auftrat, die Dinge originalgetreu, also "wahrheitsgemäß" wiederzugeben.

Neue Techniken, Medien und Produktionsmöglichkeiten sorgten seit Ende des 19. Jahrhunderts für eine bis dahin nicht gekannte Verbreitung von Bildern. Die äußerst populären Ansichtskarten bilden den Grundstock Lemkes, dessen Privatsammlung zu den umfangreichsten auf ihrem Gebiet gehört.

Exotismen, die bis dahin das Privileg schmaler Eliten gewesen waren, wurden zum Massenphänomen. Das Monopol einiger weniger Exzentriker wurde Teil der Volksbelustigung auf Jahrmärkten, in Zoos und nicht zuletzt auf den Weltausstellungen, großen, aufwendigen Spektakeln die ein Millionenpublikum in ihren Bann zogen.

Schnörkellos und unprätentiös

Seinem Gegenstand entsprechend ist das Buch ein wahrer Augenschmaus. Der schnörkellos klare (englisch- und französischsprachige) Text umrahmt das Bildmaterial, ohne es zu erdrücken.

Auf den erhobenen Zeigefinger des politisch korrekten Eurozentrismuskritikers verzichtet Lemke genauso, wie auf blauäugige, Problem vergessene Schwärmerei. Die deutlich spürbare Liebe zu seinem Gegenstand verträgt sich bestens mit dem Bewusstsein für die Schattenseiten der Epoche – etwa dem zynischen, menschenverachtenden Rassismus.

Wenn es überhaupt etwas an diesem wunderschönen und klugen Buch auszusetzen gibt, dann ist es der Verzicht auf Bildunterschriften, der den Leser bisweilen orientierungslos lässt.

Andreas Pflitsch

© Qantara.de 2006

Wolf-Dieter Lemke: Staging the Orient. Fin de Siècle Popular Visions / Représentations de l’Orient. Imagerie Populaire Fin de Siècle. Beirut: Editions Dar An-Nahar, 2004, 238 S., ISBN 9953-74-026-7.

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