Der Orient als Kuschelecke

Das Interesse an Popmusik und Lifestyle aus der arabischen Welt ist im Westen deutlich gestiegen. In London ruht die britische Jugend in trendigen Cafés auf Kissen und raucht Wasserpfeife.

Von Thomas Burkhalter

​​Räucherstäbchen würzen die Luft, dezentes Licht schafft Intimität. Der Soundtrack dazu kommt von CDs wie "Buddha Bar", "Salon Oriental" oder auch "Asian Lounge". Elektronik und Arabien-Klischees gehen eine grenzüberschreitende Liaison ein und vermitteln Orientgefühl.

Man stört sich nicht daran, dass vermeintlich Traditionelles hier auf eher simple Art und Weise modern gemacht wird, sondern fühlt sich kosmopolitisch.

In den letzten Jahren ist in London das Interesse an arabischer Kultur gestiegen – jedenfalls scheint es so. In nahezu jedem Stadtviertel findet sich heute ein arabisches – oder besser: arabisierendes – Café, in dem die britische Jugend auf weichen Kissen an Wasserpfeifen zieht und exotischen Klängen lauscht.

In Soho, Hampstead, Finsbury Park und Hammersmith laden solche Cafés zum "anderen" Entspannen ein, Momo’s Resto in der Heddon Street und das Kairo Café in Clapham North gelten als die begehrtesten Adressen.

Tanzen nach der Wasserpfeife

Das Angebot an Londoner DJs und Musikern, die sich für orientalische Klangwelten interessieren und teilweise auch ihre Wurzeln in der arabischen Welt oder der Türkei haben, nimmt mit wachsender Nachfrage zu.

Am umtriebigsten ist vielleicht der Türke Necmi Cavli. Auf der kleinen Terrasse seines Hauses in einem türkischen Viertel im Norden Londons schwärmt er von den Erfolgen seiner Gruppe Oojami und seinen "Hubble Bubble Nights". In diesen "Wasserpfeifen-Nächten" bringt er die wichtigsten lokalen und internationalen Protagonisten zusammen, die Nahöstliches und Nordafrikanisches mit Samples und Beats kombinieren: Abdel Ali Slimani, U-Cef, MoMo, Fantazia, Nelson Dilation aus London, Smadj, DuOuD und andere aus dem kontinentalen Europa.

Cavli, der vor 18 Jahren aus dem türkischen Bodrum nach London kam, will sich nicht in der türkischen Community abschotten, sondern am multikulturellen London teilhaben: "Ich könnte in der Community für politische Organisationen vor 5.000 Türken spielen. Kein Engländer käme da hin, und doch spräche die Community von Multikulti. Mich interessiert das nicht."

Trotz seiner jüngsten Erfolge meint Cavli, dass er als muslimischer Musiker mehr Hürden zu überwinden habe als etwa indische DJs. "Bis heute werden Afghanen, Araber und Türken hier in den gleichen Topf geworfen", sagt er, fördert diese Kategorisierungen aber selbst, indem er sein mehrheitlich weißes Publikum mit "Panarabien-Klischee"-Plakaten lockt: mit der Bauchtänzerin, der Wasserpfeife, dem roten, osmanischen Fez.

Der Fez als exotischer Lockvogel

Er verkaufe keinen Abklatsch, sondern arbeite mit kulturellen Produkten der türkischen Vergangenheit, wehrt sich Cavli.
Etwa mit dem Fez: Diese krempenlose Mütze aus roter Wolle, mit flachem Deckel und hängender Quaste, war früher im Orient und auf dem Balkan weit verbreitet.

Der Hut wurde allerdings 1926 in der Türkei und 1953 in Ägypten abgeschafft und lebt heute nur noch in verschiedenen Volkstrachten des Balkans fort. In der arabischen Welt trägt heute kaum jemand eine solche Kopfbedeckung – Jugendliche schon gar nicht.

Der Basler Verein "Musik der Welt" warb 2001 mit einem Fez auf dem Festivalplakat um die Publikumsgunst. Eine Maßnahme, die nur bedingt auf das Wohlwollen des ebenfalls beim Festival auftretenden Elias Khoury stieß:

Als er das "unsägliche" Plakat auf dem Festivalareal erblickt hatte, wollte der libanesische Schriftsteller auf der Stelle abreisen. Während der Fez heute in der arabischen Welt vor allem als Symbol für die osmanische Herrschaft gilt, dient die rote Mütze in Europa als exotischer Lockvogel – in London für Clubnächte, die vorgeben, am Puls der Zeit zu sein.

Die Briten lieben Klischees

"Wir leben hier, nicht dort", betont Karim Dellali, der bei den Gruppen Oojami und Fantazia Percussion spielt und in der St. Giles Church die Clubnacht "Couscous-Lounge" initiiert hat. Der Algerier arbeitet in einem großen Finanzunternehmen in Knightsbridge. Trifft man ihn in seinem Stammpub beim Hyde Park, trinkt er Bier und plaudert mit jeder und jedem – alle scheinen ihn zu kennen.

Das Interesse für arabische Kultur sei spätestens seit dem 11. September deutlich gestiegen, sagt er. Dass er mit seiner Musik dazu beiträgt, ein Arabien-Bild zu vermitteln, das nur wenig mit den Realitäten der heutigen arabischen Welt gemein hat, stört ihn nicht:

"Die Briten lieben halt Klischees. Und auch wir Araber haben stereotype Vorstellungen vom Westen." Er sei zwar stolz, Algerier zu sein, lebe aber nun einmal in Europa:

"Im ‚Exil‘ experimentiert man stärker mit Elementen seiner Heimatkultur, als wenn man in seiner Heimat leben würde. In England gibt es keine Zensur. Während etwa der Bauchtanz in der arabischen Welt bis heute den Geschmack des Anrüchigen hat, liebt man ihn hier als Kunstform. Engländer mögen es, wenn ein schöner, exotischer Bauch geschüttelt wird. Bei Oojami lassen wir sogar einen männlichen Bauchtänzer auftreten, was nun wirklich nichts mit Klischees zu tun hat."

Unterschiede zwischen England und Frankreich

Was politische Botschaften anbelangt, halten sich die Musiker Londons lieber bedeckt – im Gegensatz etwa zur algerischen Rapszene in Frankreich und Algerien, in der Gruppen wie MBS ("Le Micro Brise le Silence") und Intik kein Blatt vor den Mund nehmen und Missstände anprangern.

Tahar al-Idrissi vom englisch-marokkanischen Kollektiv MoMo etwa mag sich einfach nicht das ganze Leben lang mit Politik beschäftigen. In seinem Stammcafé in der Holloway Road trinkt er marokkanischen Minztee und berichtet von den "extremen Unterschieden zwischen England und Frankreich":

"Wir spielen für ein überwiegend europäisches Publikum, die Rapper in Frankreich dagegen vor ihren Landsleuten. Wir tragen oft unsere marokkanische Kleidung; die französisch-algerischen Rapper würden dies nie tun. Einzig die Musik ist wichtig, die Kleidung hingegen irrelevant."

Musik und Politik sind verschiedene Dinge

Nelson Dilation ist seit Jahren als DJ und Veranstalter von Clubnächten wie "Anokha", "Salon Oriental" oder "Tandoori Space" im In- und Ausland erfolgreich. Der Engländer ist ein heimlicher Star der britisch-asiatischen und der britisch-arabischen Musikszenen Londons.

"Ich bin britischer Staatsbürger, habe aber einen russischen und einen griechischen Großvater. Es ist Zufall, dass ich eine weiße Hautfarbe habe", sagt der Rasta-Mann. Dilation mixt Dancemusic mit traditioneller Musik aus Asien, Nahost und Nordafrika und passt seine DJ-Mixkunst den Clubs und Gegebenheiten an.

"Die orientalische Essenz zählt, die Politik ist Nebensache", erklärt er mit entwaffnender Offenheit. "Keine Ahnung, was die arabischen Texte bedeuten, die ich sample. Vielleicht ist meine Musik ja extrem politisch, vielleicht sogar religiös."

Er lacht. Bei den Friedensdemonstrationen etwa gegen den Irakkrieg aber ist Nelson Dilation natürlich dabei – Musik und Politik scheinen für ihn zwei verschiedene Dinge.

"Kuschelsounds für Kreditkarten-Hippies"

Das Interesse an arabischer Musik in London trifft nicht auf ungeteilte Begeisterung. "Die Arabien-Szene produziert doch einfach nur Kuschelsounds für Kreditkarten-Hippies", spöttelt etwa der britisch-asiatische Musiker TJ Rehmi. "Arabien ist noch immer nur, wonach der Westen sich sehnt."

Tatsächlich ist die arabische Welt natürlich alles andere als eine kulturelle Oase, die abgeschlossen, weit weg und neben der westlichen Welt existiert. In Metropolen wie Kairo, Beirut oder Dubai dominieren Pop- und TV-Kultur. Fernsehsender versorgen den arabischen Raum und per Satellit die ganze Welt mit Seifenopern, Popvideos und News.

Gerade Jugendliche richten sich gen Westen aus, folgen den globalen Charts, singen auf Englisch. Für die Besucher der Londoner Wasserpfeifen-Cafés hingegen scheint der Orient in erster Linie Kontrast zu sein: Abwechslung zum britischen Alltag, Alternative zur Londoner Clubwelt.

Willkommen in Klein-Beirut

In der Edgware Road dagegen, der arabischen Straße Londons schlechthin, trifft man kaum auf Engländer. Zu später Stunde ist dieses Viertel ganz in nah- und fernöstlicher Hand. Libanesen, Iraker und Geschäftsmänner aus den Golfstaaten sitzen hier in ihren Stammcafés und rauchen Wasserpfeifen; sie sitzen aber auf Plastikstühlen und ruhen nicht auf weichen Sitzkissen.

Keine Spur von entspanntem "Abhängen" – lautstark redet hier jeder auf jeden ein und versucht, den arabischen Kommerz-Pop à la EMI Arabia zu übertönen, der ein Gespräch schier unmöglich macht. Neonlicht leuchtet die Szenerie aus; eine Szenerie, die nicht aus farbigem Interieur und bunten Tüchern besteht, sondern aus kahlen weißen Wänden und Silberkitsch.

Mourad Mazouz, mit seinem "Momo’s Resto" ein Pionier in der arabischen Clubwelt Londons, ist in der Edgware Road ein gern gesehener Gast. Der Algerier ist einer der Wenigen, die mit dem Arabien-Boom ihr Geld verdienen, ohne abgekapselt von den arabischen Communities zu leben.

Die Edgware Road bezeichnet er liebevoll als das "kleine Beirut Londons". Er, der illustre Kundschaft von Rachid Taha bis Madonna in seinen Club lockt, ärgert sich maßlos über die neue "Arabien-Szene".

Exotik ist wichtiger als die Kultur

"Viele versuchen hier doch einfach auf billigste Art und Weise, Geld zu verdienen." Als Beispiel nennt er das amerikanische Label ARK21, das in London arabische Popstars und CD-Zusammenstellungen auf den Markt werfe, bei denen das CD-Cover und die Namen der Musiker mehr zählten als die musikalischen Inhalte:

"Die verkaufen als interkulturell wertvolle Musik, was in Wahrheit kommerzieller Schrott ist." Es gehe beim "Arabien-Trend" zunächst einmal um Exotik, kaum um arabische Kultur, noch weniger um arabische Menschen, sagt er. Mazouz wirbt für seine Veranstaltungen nicht mit Orientklischees. Und er eröffnet demnächst einen experimentellen Elektro-Club, in dem er sein ästhetisches Grenzgängertum auf eine neue Stufe heben will, auf dass andere seinem Beispiel folgen.

Den viel gehörten Satz: "Ich bin Araber, aber ich lebe hier", deutet er um in: "Ich trage keine Folklore-Kostüme. Bauchtanz ist für Touristen." Von Multikultur hat Mazouz eine klare Auffassung: "Es geht nicht nur um Wünsche und Projektionen, sondern um die Anerkennung der Realität mit all ihren Sonnen- und Schattenseiten."

Die Migranten bleiben in ihren Nischen

In den In-Cafés Londons genießt die britische Jugend arabisierende Kultur ohne Araber, in der Edgware Road dagegen leben Araber ihr Leben ohne Westler. Araber und ihre Kultur scheinen zweierlei: Während Elemente ihrer Kultur den Weg in die urbane Clubkultur finden, bleiben die Menschen den für Großbritannien typischen Nischen- und Community-Kulturen verhaftet.

"Die Engländer mögen unsere Kultur, uns als Menschen aber nicht", sagte der aus Kaschmir stammende, in Großbritannien lebende Rapper Mush Khan vor einigen Jahren schon, als die "Asian-Underground-Musikbewegung" Londons Clubszene kräftig aufmischte.

Trifft seine Aussage auf die arabische Kultur noch stärker zu? Oder wirkt die für London typische Quartierkultur tatsächlich so stark, dass selbst diejenigen ihre nähere Umgebung nicht verlassen, die sich eigentlich für Fremdes interessieren?

Kein Interesse für arabische Kultur

Sheree Baker ist eine neugierige Engländerin. Berührungsängste kennt sie nicht, und sie ist denn auch eine der wenigen "weißen" Engländerinnen, die sich in der Edgware Road blicken lassen. Maßlos ärgert sie sich über Londoner Freunde, die ständig in demselben Pub einkehren, weder etwas Anderes noch Neues sehen und erleben wollen.

"Viele meiden die Edgware Road, weil sie annehmen, die Frauen würden hier unverblümt angestarrt." Auf die Frage, ob dies denn der Fall sei, lacht sie: "Nicht anders als anderswo auch." Auch auf die Frage, ob Londons wiederentdeckte Liebe zum Orient mehr als eine Mode sei, reagiert sie zunächst mit einem Lachen. Sie glaubt an eine Verwechslungskomödie:

"Die Londoner Jugend vermutet, dass Wasserpfeifen in In-Lokalen mit Haschisch angereichert sind. Nur deshalb besucht sie die gemütlich dunklen Cafés; nichts lockt sie in die Edgware Road. Nimm die Drogen weg – und das Interesse für arabische Kultur ist gleich null."

Vom Wasserpfeifen-Trend also lässt sich kaum auf echtes Interesse für die arabische Kultur schließen. Die Londoner Jugend will genießen. Und zur aktuellen politischen Lage lässt es sich nun mal weniger sanft träumen als zu arabisierenden Ambient-Sounds.

Thomas Burkhalter

© Thomas Burkhalter

Der Artikel erschien erstmalig in der Zeitschrift für Kulturaustausch 4/2004

Thomas Burkhalter ist Musikethnologe und freier Journalist, u.a. für die Neue Zürcher Zeitung und für seine Webplattform www.norient.com.

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