"A Life Full of Holes"
Yto Barrada interessiert sich für Barrieren. Vor allem geht es ihr aber darum, wie die Menschen auf die Barrieren reagieren und um das Wissen darum, dass dahinter ein Ort ist, zu dem sie keinen Zugang haben.
1971 als Tochter marokkanischer Eltern in Frankreich geboren, beschreibt sich Barrada selbst als ein privilegiertes Kind mit doppelter Staatsbürgerschaft: "Diese ermöglicht es mir, mich von einem Ort an einen anderen zu begeben. Es gibt nicht viele Menschen, denen diese Chance gegeben ist."
Abbildung politischer Situationen und Konflikte
Barrada studierte Geschichte und Politik an der Sorbonne und verbrachte zwei Jahre in Jerusalem und in der Westbank, wo sie sich mit Straßensperren beschäftigte und mit den Strategien, die die Palästinenser nutzten, um mit dem israelischen Militär zu verhandeln. Zu dieser Zeit begann sie sich auch für Fotografie zu interessieren.
"Ich begann damit, meine Arbeit mit Fotos zu dokumentieren", erklärt sie. "Irgendwann wandelte sich dies aber zu etwas ganz anderem. Die Fotos wurden zu meinem wichtigsten Ausdrucksmittel, da ich merkte, dass sie mir eine viel größere Freiheit des Ausdrucks gaben. Ich begann auch, mich für Kunst zu interessieren und für die Möglichkeiten, mit ihrer Hilfe die politische Situation abzubilden."
Barradas wacher politischer Verstand zieht sich bis heute durch all ihre Arbeiten, doch bezeichnet sie selbst es als Zufall, dass ihre erste große Ausstellung "A Life Full of Holes – the Strait Project" auch die Auswirkungen einer physischen wie politischen Grenze auf eine lokale Bevölkerung dokumentiert – in diesem Fall auf die Bewohner ihrer Heimatstadt Tanger.
Sprungbrett Tanger
Bis zur Ausweitung des Schengen-Abkommens, das die Reisefreiheit in Europa regelt, auf Spanien und Portugal im Jahr 1991 konnten Marokkaner die Straße von Gibraltar in beide Richtungen ungehindert überqueren. "15 Kilometer sind eine sehr geringe Entfernung", stellt Barrada fest, "fast ist es so, wie das andere Ufer eines Sees. Den ganzen Tag sieht man die spanische Küste. Und dann, urplötzlich, war es einem versperrt, die Straße war zu einer unüberwindlichen Grenze geworden."
Marokko habe angekündigt, bis zum Jahr 2010 zehn Millionen Touristen ins Land holen zu wollen, so Yto Barrada. "Dies aber gilt natürlich nur in eine Richtung. Alle werden sie dann also hierher kommen – und wir müssen hier bleiben. Legal kann keiner mehr das Land verlassen – zumindest gilt dies für die große Mehrheit der Bevölkerung."
Seit 1991 brauchen Marokkaner ein Visum, um in ein beliebiges europäisches Land zu reisen. Nur die allerwenigsten Menschen aber erfüllen die dazu erforderlichen Voraussetzungen: genügend Geld auf ihrem Konto, ein Rückreiseticket, ein Einladungsschreiben. Deshalb versuchen so viele, illegal nach Europa zu kommen. "Sogar ein neues Wort ist dafür in Umlauf gekommen", sagt Barrada:
Verbrannte Identität
"Leute, die versuchen, illegal nach Europa zu reisen, werden 'Verbrenner' genannt. Sie verbrennen ihre Vergangenheit, ihre Identität, ihre Papiere. Werden sie in Europa geschnappt, können sie so behaupten, aus Algerien zu stammen, wodurch sie möglicherweise ein Bleiberecht bekommen, wegen der dortigen politischen Situation. Hält man sie aber für Marokkaner, werden sie postwendend zurückgeschickt."
Barrada spricht von dem "Druck aus Europa, dass Marokko so etwas wie eine Grenze noch vor der europäischen Grenze bilden soll." Sie kritisiert die marokkanische Regierung dafür, dass sie es versäumt hat, die wirklichen Ursachen für die Flucht vieler Menschen aus ihren Heimatländern zu benennen: die hohe Zahl von Arbeitslosen und die allgemein schlechte Wirtschaftslage des Landes.
"In den Zeitungen wird das Problem mit den gleichen Worten diskutiert wie in Europa, immer geht es nur um 'illegale Einwanderung'". Alles wird nur vom Sicherheitsstandpunkt aus betrachtet. Niemals wird versucht, die Frage in einen größeren Zusammenhang zu stellen."
Jedes Jahr kommen Tausende von Afrikanern nach Marokko (darunter viele Kinder, die nach geltendem Recht nicht zurückgeschickt werden dürfen), um von hier aus zu versuchen, die Straße von Gibraltar zu überqueren, in kleinen Booten oder als blinde Passagiere. Niemand weiß, wie viele von ihnen es geschafft haben, noch, wie viele bei dem Versuch ums Leben gekommen sind.
Fluchtgedanke als Obsession
Tanger sei zu einem Ort der Durchreise geworden, so Barrada: "Ganz Tanger wird von der Obsession beherrscht, auf die andere Seite zu gelangen, wo das Gras grüner ist; von morgens bis abends scheinen die Menschen nichts anderes im Sinn zu haben. Sie stehen einfach nur da und überlegen, wie sie das Geld für die Überfahrt zusammenbekommen. Wenn man durch die Straßen geht, sieht man überall diese Menschen, die nur warten und umhergehen, als wären sie unterwegs nach Nirgendwo."
Barrada versucht, diesen Übergangscharakter, der die ganze Stadt durchdringt, in Bildern einzufangen. Ihre Ausstellung wirkt am meisten, wenn man sie als Ganzes ansieht und weniger als Sammlung einzelner Fotografien. Alle zusammen sind sie mehr als die Summe ihrer Teile.
Barrada selbst sieht ihre Arbeitsweise als vergleichbar mit einer Fotomontage. Mit ihrer sparsamen Verwendung von Farbe und Metaphorik und der Weigerung, ihre Motive zu romantisieren, zielt sie darauf ab, "den ästhetischen Fetischismus in Frage zu stellen, der so lange Zeit die Darstellung der arabischen Welt geprägt hat."
Mauern sind ein immer wiederkehrendes Motiv in ihren Fotos. Eine riesige Betonplatte öffnet sich wie mit einem großen Reißverschluss, um die Sicht auf schicke neue Appartements freizugeben, davor ein unbebautes Grundstück. Auf einer weißgetünchten Mauer zeigen sich die vagen Umrisse eines Fußballs. Die Wand eines Cafés ist tapeziert mit einer absurd wirkenden alpinen Landschaft, mit ihren Seen und Bergen.
Fast alle Menschen, die Barrada in "A Life Full of Holes" zeigt, sind von der Kamera abgewandt. Ein junges Mädchen, vertieft in ihr Ballspiel; eine Frau auf der Fähre; zwei Männer, die sich auf der Rue de la Liberté umarmen – alle scheinen sie dem Betrachter mit Bedacht den Rücken zuzuwenden.
"Genau um diese Metapher geht es mir", erklärt Barrada. "Wenn man seine Zeit nur auf diesem Sprungbrett verbringt, jederzeit bereit, Afrika zu verlassen, wendet man dem, was einen tatsächlich umgibt, den Rücken zu. Deshalb kommt niemand auf die Idee, sich für das eigene Land zu interessieren und einzusetzen."
Charlotte Collins
© Qantara.de 2006
Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol
Qantara.de
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