Alte Strukturen, neue Realitäten

Eine gelbe Sanddüne vor blauem Himmel
Sind Dünen als Symbolbild und der Name Deutsche Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient (DAVO) noch zeitgemäß? In den deutschen Nahostwissenschaften ist eine Diskussion über engagierte Wissenschaft und Repräsentation entbrannt. (Foto: Picture Alliance / Anadolu | N. Boydak)

In den deutschen Nahoststudien brodelt es. Die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient (DAVO) war bisher der größte Zusammenschluss des Fachbereichs im deutschsprachigen Raum. Im Schatten des Gaza-Kriegs wird nun ein grundsätzlicher Konflikt um Repräsentation ausgetragen. Ein Protestschreiben.

Es ist offensichtlich, dass die Nahostforschung – vielleicht mehr als andere Disziplinen – vor großen Herausforderungen steht. Das Lagerdenken und der Positionierungszwang, dem Wissenschaft seit dem 7. Oktober ausgesetzt ist, hat verdeutlicht, wie stark die Disziplin im Spannungsfeld politischer Debatten steht. 

Forschende, die sich kritisch gegenüber der israelischen Kriegsführung in Gaza äußern, werden zunehmend als Akteur*innen mit politischer Agenda missverstanden, ihre fundierten Analysen werden als ideologisch gefärbt abgewertet. Diffamierungen und persönliche Angriffe nehmen zu, und nicht selten münden diese im Versuch, wissenschaftliche Karrieren zu beschädigen – zuletzt etwa im Zuge der „Fördergate“-Affäre im BMBF.

Umso schwerer wiegt das immer offensichtlicher zutage tretende Repräsentationsdefizit der deutschen Nahostforschung. Seit nunmehr drei Jahrzehnten erhebt die „Deutsche Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient,“ kurz DAVO, den Anspruch, eine Brücke zwischen der Forschung zum „Vorderen Orient“ und der deutschen Öffentlichkeit zu bilden. Viele derjenigen, die die Debatten zu den Umbrüchen im Nahen Osten und Nordafrika vorantreiben, bot sie während dieser Zeit eine disziplinäre Heimat. Sie waren Preisträger*innen, organisierten Komitees und Panels auf Konferenzen und warben auch durch ihr persönliches Engagement unermüdlich um Nachwuchs, um frischen Wind in die Organisation zu holen.

Doch von diesen Stimmen wenden sich viele nun von der DAVO ab, darunter auch einige Autor*innen dieses Textes. Nicht etwa deshalb, weil wir keinen Zweck mehr in einer starken Fachgemeinschaft sehen. Sondern weil unsere Hoffnung schwindet, dass innerhalb der bestehenden Strukturen dringend notwendige Transformationen erreicht werden können. Die Ereignisse der letzten Monate scheinen vielmehr diejenigen zu bestätigen, denen der Fachverband für „gegenwartsbezogene Forschung zum Vorderen Orient“ – aufgrund seines Namens, seiner Strukturen, seiner Hierarchien – noch nie eine inspirierende und inklusive intellektuelle Gemeinschaft bot. 

Stillstand in einer Zeit des Wandels

Es ist ein Paradox: Während weltweit Wissenschaftsverbände daran arbeiten, ihre Organisationen inklusiver, interdisziplinärer und transparenter zu gestalten, scheint die DAVO an einem Modell festzuhalten, das zeitgenössischer Wissenschaft nicht gerecht wird. 

Dies betrifft grundlegende Fragen: Den anachronistischen Namen etwa, der international in der Kritik steht und viele Nachwuchswissenschaftler*innen abschreckt, die sich nicht mit einem kolonialen und orientalistischen Label assoziieren wollen. Die interdisziplinäre Ausrichtung, die zwar rhetorisch betont, aber in der Praxis kaum weiterentwickelt wird. Und schließlich die Strukturen selbst – wenig divers und mit stark zentralisierten und wenig demokratischen Entscheidungsprozessen.  

Der Konflikt, der den Anlass für diesen Artikel bildet, ist kulturell wie politisch: Um die Frage, wer die deutsche Nahostforschung in ihrer fachlichen und biographischen Diversität und ihren wissenschaftspolitischen Interessen angemessen zu vertreten vermag; und darum, wie diese Repräsentation in Zukunft aussehen soll.

Politische Polarisierung, die Instrumentalisierung von Wissenschaft und die zunehmenden Angriffe auf Wissenschaftsfreiheit erfordern ein Umdenken in Fachgemeinschaften. Der Rückzug auf eine vermeintlich „objektive“ akademische Position verkennt die Tatsache, dass eben die Disziplinen, die die DAVO vertritt, längst zum Spielball von Kulturkämpfen und politischen Identitätskonflikten geworden sind. 

In diesem Spannungsfeld ist die Entscheidung, nicht öffentlich als starke Stimme der Wissenschaft aufzutreten, um gesellschaftliche Diskurse mitzuprägen und fachlich zu unterfüttern, letztlich auch eine politische Position. Doch gerade hier zeigt sich die DAVO resistent gegenüber Veränderung. Der Wunsch nach mehr Teilhabe, Transparenz und Öffnung stößt auf Blockade. Jene, die sich für Transformation einsetzen, werden nicht als treibende Kräfte, sondern als Störenfriede wahrgenommen – und das seit vielen Jahren. 

Die Angst vor Kontrollverlust 

Jüngste Ereignisse illustrieren dies besonders deutlich: Der Versuch, nach dem Vorbild der British Society for Middle Easter Studies oder der Middle East Studies Association in den Vereinigten Staaten ein Gremium für Wissenschaftsfreiheit (GfW) innerhalb der DAVO zu etablieren, spaltet die deutsche Nahostforschung. Eine Gruppe junger Wissenschaftler*innen, darunter Autor*innen dieses Briefes, hatte unter großem persönlichem Einsatz die Einrichtung eines solchen Gremiums vorangetrieben. 

Unterstützt durch Kolleg*innen in den USA und Großbritannien erfuhr ihr Vorschlag bereits vor dem 7. Oktober 2023 große Resonanz innerhalb des Vereins, gerade unter jungen, prekär beschäftigten Nahost- und Islamwissenschaftler*innen sowie BPoC, welche sich besonders häufig persönlich im Fadenkreuz von Diffamierungs- und Doxing-Kampagnen wiederfinden. In einer Zeit, in der Nahostforscher*innen zur Zielscheibe von Hass werden, nahmen viele die Initiative als ein wichtiges Signal wahr – als einen möglichen Schutzraum, in dem sich Kolleg*innen solidarisch beistehen und aktiv gegen die Einschränkung wissenschaftlicher Arbeit positionieren könnte.  

Diese Aussicht hatte auf viele junge Forschende eine regelrecht energetisierende Wirkung. Ihr Gegenüber stand indes ein Vorstand etablierter Wissenschaftler*innen, die in einem GfW primär die Absicht ihrer Entmachtung sahen. Statt seine Einrichtung, wie auf der Mitgliederversammlung 2023 in Wien beschlossen, proaktiv zu unterstützen, tat sich die Fachgesellschaft vor allem mit dem Aufzeigen bürokratischer Hürden hervor: Durch umstrittene Rechtsgutachten, Spielen auf Zeit, selektive und tendenziöse Sitzungsprotokolle, sowie eine stark im Interesse des Vorstands gefärbte Informationspolitik gegenüber den Mitgliedern. 

Im Sommer 2024 eskalierte der Konflikt beim DAVO-Kongress. Die dortige Mitgliederversammlung wurde zum Schauplatz einer heftigen Debatte um die Unabhängigkeit des vorgeschlagenen Gremiums. Um ein eigenständiges GfW zu verhindern, versuchte der DAVO-Vorstand durch einen juristischen Winkelzug, eine Diskussion des entsprechenden Vorschlages im Vorfeld noch abzuwenden. Auf der Mitgliederversammlung selbst drohte er gar, die DAVO durch einen geschlossenen Rücktritt handlungsunfähig zu machen.  

Nur auf Druck von Kolleg*innen kam es nach einer mehrstündigen Sitzung schließlich zu Kampfabstimmung. Doch selbst deren Ergebnis vermochte das Tauziehen nicht zu beenden: War die Mitgliederversammlung zunächst im falschen Glauben geendet, dass die Einrichtung des GfW gescheitert war, so stellte sich im Nachhinein heraus, dass das notwendige Quorum entgegen den Beteuerungen des Vorstands erreicht worden war. Die offizielle Anerkennung dieses demokratischen Ergebnisses steht indes weiter aus.  

Das Protokoll der Mitgliederversammlung zementiert nun einzig die Sicht des Vorstands. Ein neues anwaltliches Gutachten soll das Abstimmungsergebnis untergraben. Die Strategie scheint seit Jahren dieselbe: Vorschläge werden blockiert oder vertagt, zentrale Entscheidungen in kleinen Kreisen getroffen, während der Großteil der Mitglieder oft gar nicht erfährt, was tatsächlich geschieht. 

Repräsentations- und Demokratiedefizite

Der Zwist um die Einrichtung eines Gremiums für Wissenschaftsfreiheit ist letztlich Symptom für die tiefere Krise und den offensichtlichen Mangel an inklusiven Strukturen und demokratischer Kultur in der deutschen Nahostforschung. Etablierte Forschende in Leitungsfunktionen, die ihre wissenschaftliche Rolle primär über fachliche Expertise definieren, stehen immer offensichtlicher einer nachfolgenden Generation gegenüber, welche für sich eine Mitverantwortung in gesellschaftlichen Prozessen sieht. 

Vor diesem Hintergrund ist das Tauziehen um das GfW zu verstehen: Statt eine dynamische und politisierte Basis zu schätzen und das vorgeschlagene Gremium als konstruktiven Beitrag zu einem der drängendsten Probleme unserer Zeit zu sehen, wird die Initiative als Angriff auf die Autorität des DAVO-Vorstands wahrgenommen.

Wissenschaftsfreiheit unterstützt zwar auch dieser, doch nur solange sie keine Umstrukturierung des Verbands nach sich zieht. Dabei hätte man das Engagement der Mitglieder als positives Signal auffassen können. Es zeigt schließlich, dass viele Forschende den Fachverband nach wie vor als relevante Interessenvertretung sehen und ihn mitgestalten wollen.

Wer spricht für die Nahostwissenschaft?

Die Blockadehaltung des DAVO-Vorstands zeigt vor allem Angst vor Veränderungen, die längst überfällig sind. Führungsstrukturen, die auf zentralisierter und wenig transparenter Entscheidungsfindung basieren, arbeiten nicht im Sinne der Wissenschaft. Das Selbstverständnis der Nahoststudien hat sich gewandelt, damit müssen sich Fachgemeinschaften wie die DAVO auseinandersetzen. 

Der Konflikt in der DAVO steht exemplarisch für die größeren Fragen, die sich die Wissenschaft in Zeiten von shrinking spaces stellen muss: Will sie ein Raum sein, der Vielfalt und Interdisziplinarität nicht nur toleriert, sondern aktiv fördert? Will sie ein Modell für demokratische Mitgestaltung werden, das andere Fachgemeinschaften inspiriert? Will sie durch Expertise gesellschaftlichen Diskursen Tiefe verleihen und sich dort einmischen, wo reaktionäre Kräfte den Raum für kritische Wissenschaft zunehmend beschneiden?  

Der Krieg in Gaza wirkt auf diesen Konflikt wie ein Katalysator: Unfähigkeit oder Unwille weiter Teile der Nahostforschung, in den einseitigen deutschen Diskurs zu intervenieren und die verzerrte Wahrnehmung der Konfliktrealitäten zu kritisieren, hat insbesondere beim wissenschaftlichen Nachwuchs viele enttäuscht. Die Kontroverse um das Gremium ist vor diesem Hintergrund den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.  

Wegscheide für die Nahostforschung

Die Nahostforschung in Deutschland ist gespalten wie lange nicht. Einige sehen sich in ihrem Bild der DAVO als einem undemokratischen und exklusiven Gremium nur bestätigt. Andere sehen keine Perspektive mehr für eine Richtungsänderung innerhalb der bestehenden Strukturen und verlassen den Verband. Wiederum andere machen sich auch nach den schmerzhaften Gefechten der letzten Monate weiterhin innerhalb der DAVO für einen Wandel stark und setzen statt auf Austritt auf eine Reform der Vereinigung. 

Klar ist: Eine Rückkehr zum Status Quo ante wird kaum möglich sein. Es braucht neue Ansätze, neue Strukturen, neue Modelle, die den Herausforderungen einer globalisierten und zunehmend polarisierten und bedrohten Wissenschaftswelt gewachsen sind – ob innerhalb einer reformierten DAVO oder in einem anderen Format.

Jannis Julien Grimm, Jens Hanssen, Sevil Çakır-Kılınçoğlu, Kawthar El-Qasem, Nils Riecken, Ralph Rudolph, Ilyas Saliba, Hoda Salah, Benjamin Schütze, Clara-Auguste Süß, Sarah Wessel, Jan Wilkens