Demokratisch und pluralistisch?
Wenn Anfang Oktober das ägyptische Komitee für die Zulassung neuer Parteien beraten haben wird, könnte es sein, dass das Land am Nil eine neue politische Kraft besitzt. Jürgen Stryjak über die Partei Al-Wasat, die wegen ihres Reformansatzes international immer öfter mit der türkischen, gemäßigt-islamischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung verglichen wird.
Parteigründer Abu al-Ula Madi ist optimistisch, aber das war er auch vor dem ersten und dem zweiten Mal. "Wer in unserer Region keinen gesunden Optimismus besitzt", sagt er, "der kann gleich zu Hause bleiben."
Zweimal seit 1996 hat sich die Partei in Gründung bereits vergeblich um eine offizielle Lizenz beworben. Nach jeder gescheiterten Bewerbung haben Abu al-Ula Madi und seine Leute an der Konzeption gefeilt und diese erweitert.
Insgesamt fünfzig Lizenzwünsche hat das staatliche Komitee für politische Parteien in den letzten 25 Jahren abgelehnt – zumeist entweder mit dem Hinweis, dass keine der neuen Parteien Ziele vertritt, die nicht bereits in der bestehenden Parteienlandschaft abgedeckt werden würden bzw. mit der Begründung, dass die Gesetze des Landes religiös ausgerichtete Parteien nicht erlaubten.
Abspaltung von den Muslimbrüdern
Al-Wasat vertritt nicht nur einen explizit islamischen Ansatz, sondern gilt darüber hinaus auch als Abspaltung von der islamistischen Vereinigung der Muslimbrüder. Abu al-Ula Madi selber war über anderthalb Jahrzehnte bei den Muslimbrüdern aktiv, darunter in leitenden Funktionen, wie zum Beispiel im von der Bruderschaft dominierten Ingenieurssyndikat.
Bis er 1996 zusammen mit einigen Mitstreitern den Muslimbrüdern den Rücken kehrte, "nachdem wir zehn Jahre lang vergeblich versucht hatten, die Muslimbruderschaft zu reformieren."
Die öffentlichen Reaktionen sind gespalten: Die einen befürchten, Al-Wasat könnte ein trojanisches Pferd der Muslimbrüder sein, um deren Ideen auf neuen Wegen Geltung zu verschaffen. Andere vermuten hingegen, dass es sich bei Al-Wasat um einen Versuch der Regierung handele, die islamistische Bewegung zu spalten und den Einfluss der Muslimbrüder zu schwächen.
Beide Seiten übersehen, dass Al-Wasat von den Muslimbrüdern wie vom Staat beargwöhnt bzw. von ersteren sogar offen angefeindet werden.
Unterstützung von verschiedenen Seiten
Trotz dieser Skepsis, die sich nicht selten auf dem Boden von Verschwörungstheorien bewegt: Besonders in den letzten Jahren fand das Projekt Al-Wasat wachsenden Zuspruch, bei kontinuierlich anwachsender Glaubwürdigkeit.
Laut Gesetz, sagt Abu al-Ula Madi, seien fünfzig Unterstützer nötig, um die Zulassung zu beantragen. Al-Wasat könnte tausend Unterschriften zusammenbringen, man habe aber bewusst bei 200 Unterschriften aufgehört zu sammeln – und sich dabei auf wichtige und exemplarische Namen aus dem öffentlichen Leben beschränkt, unter ihnen Rechtsanwälte, Journalisten, Universitätsprofessoren, Bauern und Arbeiter.
Etwa 15 Prozent der Unterstützer, sagt der 46-Jährige Parteigründer, kämen von den Muslimbrüdern, die anderen Unterstützer spiegelten die gesamte Gesellschaft wider, unter ihnen sieben koptische Christen, 44 Frauen "mit und ohne Kopftuch", Geschäftsleute und Säkularisten, aus allen Governoraten Ägyptens. Fast also eine Art breiter Sammlungsbewegung.
Sie alle finden ihre Interessen von einer Partei vertreten, deren Name "die Mitte" bedeutet. "Religion ist ein bedeutender Aspekt unserer Gesellschaft", sagt Abu al-Ula Madi. "Kein politisches Projekt, das die Religion vernachlässigt, wird in Ägypten Erfolg haben. Wir sehen den Islam aber nicht hauptsächlich als Religion, sondern als Zivilisation, an der alle gesellschaftlichen Gruppierungen teilhaben, weil sie in ihr leben."
Und er verweist auf das Beispiel demokratischer Parteien im Westen, die sich als christlich bezeichnen, aber alles andere als vordergründig religiös operierten.
Neuinterpretation des islamisches Rechts
Während sich die Muslimbruderschaft – illegal, aber über weite Strecken vom Staat geduldet – für die Einführung der Sharia, also des islamischen Rechts, und für ein religiös inspiriertes Staatswesen ausspricht, strebt auch Al-Wasat an, dem islamischen Recht eine neue Geltung zu verschaffen.
Die Partei schließt aber ausdrücklich moderne demokratische Um- und Neuinterpretationen der Sharia mit ein. Sie will Fragen dieser Art der gesellschaftlichen Debatte und einem breiten Konsens überlassen, der alle sozialen Kräfte, auch Säkularisten und Frauen, einbezieht, die dafür sorgen sollen, dass ihre Interessen vertreten seien.
Die Muslimbruderschaft, sagt Abu al-Ula Madi, sei eine religiöse Gruppierung mit missionarischem Charakter, Al-Wasat aber gehe es um zivile politische Inhalte. "Deshalb bekämpfen uns die Muslimbrüder."
Den Islam sieht er als einen sehr weiten Kreis mit nur wenigen unverrückbaren Prinzipien. Innerhalb dieses Kreises aber gebe es hundertprozentige Freiheit mit vielen hundert Optionen, demokratisch und pluralistisch.
Gleichstellung der Geschlechter
Das Parteiprogramm, auf der Webseite der Partei einsehbar, betont die Freiheit des Glaubens, die Unantastbarkeit öffentlichen wie privaten Eigentums sowie den Schutz der menschlichen Würde. Es fordert die Trennung von Legislative, Exekutive und Gerichtsbarkeit und die Abhaltung freier, allgemeiner und fairer Wahlen.
Keinem Ägypter sollten aufgrund von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht oder Religion die Bürgerrechte vorenthalten werden dürfen – einschließlich des Rechtes auf Ausübung öffentlicher Ämter. Die vollständige Gleichheit der Geschlechter wird besonders hervorgehoben. Sie schließt die Ausübung höchster Staatsämter, etwa bei Gerichten oder als Präsident bzw. Präsidentin des Landes, mit ein.
Bislang gibt es keine Anzeichen dafür, ob das von der regierenden Nationaldemokratischen Partei des Präsidenten Mubarak dominierte Zulassungskomitee Anfang Oktober der Partei Al-Wasat eine Lizenz erteilen wird oder nicht.
Die Furcht davor, dass über Parteien wie Al-Wasat undemokratisches islamistisches Gedankengut eine politische Bühne erhält, mag die Entscheidung negativ beeinflussen, aber ob diese Furcht tatsächlich gerechtfertigt ist, wird man erst erfahren können, wenn sich Al-Wasat im politischen Alltag, öffentlich und transparent, bewähren kann.
"Was ist das ganze Gerede von politischen Reformen wert", fragt Abu al-Ula Madi, "wenn man nicht einmal damit beginnt, neue Parteien zuzulassen?"
Jürgen Stryjak
© Qantara.de 2004
Webseite der Partei Al-Wasat (arabisch/z.T. englisch)