"Der Liebe verfallen, dem Wahnsinn zur Beute"
Die Auseinandersetzung mit muslimischer Dichtung vom 13. bis 15. Jahrhundert in persischer Sprache setzt nicht nur eine Beschäftigung mit der Alltagswirklichkeit voraus, sondern auch das intensive Studium poetischer Formen.
Dick Davis, britischer Poet und Übersetzer, verdeutlicht in seinem Essay "On not translating Hafez" die Schwierigkeit, die sich hinter diesem Vorhaben verbirgt. Nämlich, dass "die Sprache religiöser und mystischer Hingabe" in der diese Lyrik verfasst wurde, nicht selten weit von ihrer wörtlichen Bedeutung entfernt ist. Deshalb, fügt er hinzu, fällt es einem Leser, der nicht aus diesem Traditionskreis kommt, zuweilen schwer, die ursprüngliche Intention der Worte zu verstehen.
Erwähnt sei auch, dass bei der Bearbeitung persischer Lyrik erschwerend hinzukommt, dass das syntaktische Gerüst kein genderspezifisches Pronomen kennt, das heißt, es ist grammatikalisch nicht sichtbar, ob es sich - vorausgesetzt die Worte sind an ein Individuum gerichtet - um das weibliche oder männliche Geschlecht handelt.
Diese Feinheit erschließt sich wenn überhaupt aus Detailformulierungen, oder lässt sich aus dem Lebenskontext des Verfassers (soweit dieser bekannt ist) ableiten. Letzteres ist mit Ausnahme der Lyrik von Zahir al-Din Muhammad Babur nur selten der Fall. Babur ist der einzige Herrscher im islamischen Mittelalter, der ein Werk hinterlassen hat, dessen soziale Realität weitgehend der narrativen Wahrheit entspricht.
Zahir al-Din und Jalal al-Din
Die Sprache Zahir al-Din Muhammad Baburs (1483-1530) ist präzise, direkt und herausragend detailliert. Der einstige Begründer des Mogulreiches, patriarchaler Nachkomme von Timur matriarchaler Abstammung Dschingis Khans, hinterlässt seiner Nachwelt nicht nur lyrischen Reichtum, sondern auch ein autobiographisches Werk, das "Baburnama".
Herausragend ist es nicht nur deshalb, weil er im Stile des tolstoischen Realismus sein Leben in der ersten Person niedergeschrieben hat, sondern seine lyrischen Produktionen in den autobiographischen Fließtext integrierte und nicht selten kontextual erläuterte.
Wo der Leser im 21. Jahrhundert über Jalal al-Din Rumis (1207-1273) Verse stolpert und nicht recht weiß, was es als Hindernis zu begreifen gilt, formuliert Babur klar und unmissverständlich. Zwar ist das lyrische Material, das uns heute von Rumi vorliegt, um ein Vielfaches reicher, und die Wissenschaft überschlägt sich mit Publikationen über den von der UNESCO 2007 zur universalen Kulturikone deklarieren Dichter, aber über Vieles ist man sich uneins.
Verbunden sind die Dichter durch ihre Herkunft aus Transoxanien, das damals den geographischen Raum des heutigen Usbekistan, Tadschikistan, Kirgistan und den Südwesten von Kasachstan bezeichnete, sowie durch ihre homoerotische Lyrik, mit der sich beide zeitlebens beschäftigten.
Homoerotische Lyrik gesellschaftlich akzeptiert
Wenn wir heute über die homoerotische Liebe im Islam sprechen, hat das kaum etwas mit jenem Verständnis zu tun, das in der vorkolonialen Zeit selbstverständlich war. Abgesehen davon, dass der Terminus Homosexualität unlösbar mit der euroamerikanischen Ideengeschichte verknüpft ist, und demnach auf einer spezifischen kulturellen Tradition beruht - somit auch keinen Universalanspruch hat - war die homoerotische Zuneigung im islamischen Mittelalter nichts Verwerfliches. In der Dichtung gehörte sie schon fast zum guten Ton und muss deshalb separiert untersucht werden.
Die Lobpreisungen junger Knaben, deren Schönheit und erotische Wirkung, wurden mit der Lobpreisung Gottes gleichgesetzt. Die Abgrenzung zwischen hetero und homo benennt der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Franz X. Eder als "ein spezifisches Phänomen moderner, westlicher Kulturen".
Das bedeutet im Umkehrschluss, dass individuelle Liebe im islamischen Mittelalter insofern keinen gesellschaftlichen Diskurs durchlaufen hat, weil sie es nicht musste. Erst unter kolonialem Einfluss wurde die im islamischen Raum verfasste homoerotische Lyrik als etwas Anstößiges behandelt und dementsprechend negativ kanonisiert.
Neben der weit verbreiteten Überzeugung, dass die männliche Beschaffenheit göttlichen Perfektionismus widerspiegeln würde, bevorzugte man die Homoerotik im Vergleich zu heterosexuellen Metaphern auch in Anlehnung an die in der Gesellschaft etablierte Geschlechtertrennung. Auch die Heirat hatte einen anderen Stellenwert. Ehen wurden oft auf Basis sich begünstigender Interessen geschlossen, Liebe fand nicht selten woanders statt.
Seine amourösen Gefühle beschreibt der 17jährige Babur erstmals, als er kurz nach seiner Eheschließung um 1500 auf einem Markt in Andijan einen schönen Jüngling namens Baburi erblickt.
Wenige Zeilen zuvor schildert er detailliert die an ihm zehrende Unlust, mit seiner Frischvermählten intim zu werden: "Schüchtern und schamhaft begab ich mich zunächst alle zehn, fünfzehn oder zwanzig Tage zu ihr, bis sich diese erste Zuneigung allmählich verlor (...). Auch meine Mutter, die Khanim, vermochte schließlich bei mir nicht mehr zu erreichen, als mich alle Monate oder vierzig Tage zu ihr zu schicken und auch dies nur mit größter Not."
Liebeskrank sei er hingegen geworden vom Anblick des Knaben Baburi: "Bis dahin hatte mich noch nie eine solch heftige Leidenschaft für einen Menschen ergriffen". Als er endlich vor ihm steht, bekommt er kein Wort heraus, ist wie gelähmt und notiert: "Seit ich der Liebe verfiel, bin ich/dem Wahnsinn zur Beute/Sie aber wirkt’s, sie schickt/Verzauberten Not."
Solche Verse und prosaischen Passagen werden in der Wissenschaft kontrovers diskutiert. Stephan F. Dale, Professor für Geschichte, schließt nicht aus, dass es sich hier auch um "eine gelebte Kunstimitation" handeln könnte, eine literarische Übung also. Andererseits ist es nirgend so einfach, Sinn und Intention eines Verses zu begreifen, wie in Baburs "Baburnama", liefert der Autor die kontextualen Umstände gleich mit.
Erotik in Rumis Poetik
Der Erotik und sexualisierten Symbolik in Rumis "Mathnawi", schreibt Mahdi Tourage in seinem Buch "Rumi and the Hermeneutics of Eroticism", wurden bis heute kaum Aufmerksamkeit geschenkt und insbesondere von der Wissenschaft stiefmütterlich behandelt. Dennoch ist es wichtig, sich angesichts der Interpretationsvielfalt mit diesen Themen zu beschäftigen und diese zu hinterfragen. Laut Annemarie Schimmel war es erst Shams-i Tabriz, der Jalal-al Din Rumi in einen Poeten verwandelte. Sie ging sogar soweit zu behaupten, dass wir heute von einem anderen Rumi sprechen müssten, wenn sich die beiden nie begegnet wären.
Zwar vergleicht sie die Beziehung der beiden Männer mit der Freundschaft Gilgameschs zu seinem Enkidu, aber die Wirkung der Vereinigung lässt sie dennoch unangetastet. Tatsächlich kann mit ziemlich genauer Sicherheit gesagt werden, dass Rumi erst nach dem Verschwinden seines geliebten Shams damit begonnen hatte, sich intensiv mit der Dichtung zu beschäftigen. Hinterlassen wurde uns also etwas, dass wir in einer idealen Welt der individuellen Liebe zuschreiben würden, stattdessen wird größtenteils kategorisiert, entschuldigt, der Umstand, dass es sich hier um homoerotische Lyrik handeln könnte oft vehement verleugnet.
Das erste Mal aufeinander getroffen sind Jalal al-Din Rumi und Shams-i Tabriz im Jahre 1244 – seitdem sollten beide nicht mehr voneinander loskommen. Begleitet von Eifersucht und Missgunst seitens der Familie und den Anhängern Rumis kam es, das Shams schließlich eines Tages verschwand. Die Hintergründe und Ursachen seines Fernbleibens sind nicht bekannt. Nach dem Verlust seines Geliebten Shams schreibt Rumi unermüdlich Briefe, reist nach Syrien, ist bis zur Erschöpfung auf der Suche nach ihm. Was wir heute mit Begeisterung lesen, lässt sich zu einem großen Teil dieser Epoche in Rumis Leben zuordnen.
Melanie Christina Mohr
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