Gratwanderung zwischen Scharia und Menschenrechten
"Nigeria ist wie ein Kuchen: Drum herum sitzen die Diebe, und der, der das größte Messer hat, bekommt das größte Stück. Das größte Messer ist die Bedrohung der nationalen Einheit", so Lamido Sanusi, nigerianischer Soziologe, Religionswissenschaftler und Ökonom, über das Erdöl-Land Nigeria.
Der westafrikanische Staat hat seit jeher Mühe, sein aus mehr als 250 Ethnien mit meist eigenen Sprachen bestehendes 120-Millionen-Volk zusammen zu halten. Die Rivalitäten zwischen den sunnitisch-muslimischen Haussa-Fulla (auch Haussa-Fulbe oder Haussa-Fullani) im Norden und den im wirtschaftlich starken Südwesten vorherrschenden christlichen oder animistischen Yoruba führen fast schon regelmäßig zu heftigen Gewaltausbrüchen.
Nach dem Wahlsieg des Präsidenten Olusegun Obasanjo 1999 kehrte Nigeria nach jahrelanger Militärdiktatur zur Demokratie zurück. Im gleichen Jahr richteten die Gouverneure der nördlichen Provinzen die Justiz nach der Scharia aus. Die Bundesstaaten verfügen, ähnlich wie in den USA, über eigene Gerichtssysteme. Schon bald galt in 12 von 26 Provinzen Nigerias das islamische Gesetz.
Scharia Symbol muslimischer Identität
Für Sanusi ist der Zeitpunkt kein Zufall: "Die Militärs, die hauptsächlich aus dem Norden stammen, hatten aufgrund der Demokratisierung und der Wahl eines nicht-muslimischen Staatschefs an politischer Bedeutung verloren" – und brauchten ein neues "Messer".
"Dabei stellt die Scharia ein starkes Symbol muslimischer Identität dar. In allen Regionen Nigerias wird seit dem Ende der 90er Jahre verstärkt die regionale Identität heraus gestellt – die Ursache hierfür liegt in einer tiefen Verunsicherung der Menschen, hervorgerufen durch Armut, Arbeitslosigkeit, eskalierende Kriminalität, Korruption, etc."
Nigeria ist laut der Anti-Korruptions-Organisation "Transparency International" eines der korruptesten Staatswesen der Erde. Rund 200 Milliarden Dollar, fast das Siebenfache der nigerianischen Auslandsschulden, gelten als veruntreut.
Die Mehrheit der Nigerianer steht der Einführung der Scharia skeptisch gegenüber. Auch muslimische Geistliche. Christliche Fundamentalisten hoffen, dass mit der Scharia effektiv gegen Alkoholismus und Prostitution vorgegangen wird.
Heftige Debatten um das Für und Wider
Gegner und Befürwortern des islamischen Rechts liefern sich heftige Auseinandersetzungen über dessen Funktion, Auslegung und Stellenwert im multikulturellen und multireligiösen Nigeria. Vorwürfe der Diskriminierung werden immer wieder erhoben. Das Thema beschäftigt längst nicht mehr nur religiöse Kreise.
"Mehr und mehr Menschen werden in die Debatte hineingezogen. Man kann in gewisser Weise von einer Demokratisierung der Scharia sprechen", glaubt Sanusi.
Entwickelt sich die ehemalige britische Kolonie zu einer "Schariakratie"? Mit diesem Begriff bezeichnet der Kulturwissenschaftler Ali Mazrui ein liberal-demokratisches System, in dem nach der Scharia Recht gesprochen wird.
Aber es bestehen Unklarheiten über das Verhältnis zwischen staatlicher Justiz und Scharia im international eingebundenen, multireligiösen Staat. Die nigerianische Verfassung duldet Gewohnheitsrecht, Scharia und die am britischen Recht orientierte nationale Gesetzgebung.
Nigeria hat aber auch internationale Abkommen unterzeichnet, die sich für die Achtung der menschlichen Würde einsetzen. Solch ein Abkommen verbietet zum Beispiel, dass Dieben die Hand amputiert wird.
Mangelnde Ausbildung der islamischen Juristen
Der weltweit von Protesten begleitete Fall Safiya Hussainis, die wegen Ehebruchs in erster Instanz zum Tod durch Steinigung verurteilt worden war, ist allerdings auch nach Scharia-Gesetz ein Skandalurteil und ein Hinweis darauf, dass nigerianische Juristen oft katastrophal ausgebildet sind.
Hussaini wurde im Revisionsverfahren wegen schwerer Verfahrensfehler freigesprochen. "In einem weiteren Fall bestand ein Verurteilter, der wegen Diebstahls zum Verlust einer Hand verurteilt worden war, gegen den Rat seiner Anwälte auf seine Strafe", berichtet Sanusi.
Muss der Staat in solch einem Fall einen Menschen aber nicht vor sich selber schützen? Und darf er Henker autorisieren, Gliedmaßen seiner Bürger zu amputieren, oder gar zu töten?
Ein weiterer Konfliktpunkt ist, dass das islamische Recht nicht genormt ist. "Nach Auffassung der in Afrika verbreiteten islamischen Rechtsschule der Malikiten gilt das Gewohnheitsrecht, solange es nicht dem Koran widerspricht", sagt Sanusi. "Da aber die Gouverneure der muslimischen Provinzen in Nigeria aus verschiedenen Gegenden kommen, variiert oft ihr Zugang zur Scharia."
Er verweist auch auf unterschiedliche ideologische Hintergründe. Unter den Akteuren, welche die Islamisierung Nigerias vorantreiben, befinden sich Leute, die den Muslim- Brüdern nahe stehen. Andere haben sich von der islamischen Revolution Irans beeindrucken lassen. Und wieder andere versuchen, die westlich-liberale Demokratie mit dem Islam zu vereinen.
Gerechtigkeit durch Scharia?
Letztendlich wird für die zukünftige Entwicklung in Nigeria viel davon abhängen, ob die Einführung der Scharia das bringt, was sich die Menschen davon versprechen – mehr Gerechtigkeit.
"Der Islam tritt mit dem Anspruch auf, eine Religion der Gerechtigkeit zu sein", erläutert Sanusi. "Nun ist nach Scharia-Auslegung zum Beispiel jemand, der in ein fremdes Haus eindringt und die dort angebundene Ziege fortnimmt, ein Dieb - er bekommt die Hand amputiert.
"Wenn es sich bei dem Ziegendieb aber um einen Hausangestellten handelt, der legalen Zugang zum Haus hatte, dann gilt die Tat zwar als Vertrauensmissbrauch, aber nicht als Diebstahl, und wird milder bestraft.
"Letzteres wird nun übertragen auf einen legal ins Amt gewählten Staatspräsidenten, der Millionen von Staatsgeldern veruntreut: Juristen sprechen hier von Vertrauensmissbrauch, aber nicht von schwerwiegenderen Diebstahl.
"Jemand, der eine fremde Ziege stiehlt wird also härter bestraft, als ein Präsident, der dem Staat Millionen von Dollar entwendet. Ist das nun gerecht?" Bis jetzt, so Sanusi, "hat die Einführung der Scharia nichts verbessert."
Lennart Lehmann
© Qantara.de 2005
Lamido Sanusi ist Soziologe, Religionswissenschaftler und Ökonom und arbeitet als Risikomanager für die United Bank of Africa. In Khartum studierte er Religionswissenschaften. Er gehört zur Familie des Emir von Kano, eine der Provinzen, in der seit 1999 die Scharia gilt.
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