Ein unverfrorener Akt staatlicher Repression
Ein Resolutionsentwurf zur Bekämpfung von „Antisemitismus und Israelfeindlichkeit an Schulen und Universitäten“ soll im Dezember vom Parlament verabschiedet werden. Der Entwurf wurde kaum eine Woche nach der Verabschiedung der kontroversen “Nie wieder ist jetzt”-Resolution publik. Diese ruft dazu auf, Antisemitismus in der breiten Gesellschaft zu bekämpfen, indem Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen, die der israelischen Regierung kritisch gegenüberstehen, keine öffentlichen Mittel gewährt werden.
Die Resolution war trotz Protests von über hundert jüdischen Intellektuellen in Deutschland verabschiedet worden. In einem offenen Brief hatten sie im Vorfeld argumentiert, dass der Beschluss „die Vielfalt des jüdischen Lebens in Deutschland eher schwächen als stärken [wird], indem sie alle Juden mit den Handlungen der israelischen Regierung in Verbindung bringt”. Rechtsexpert:innen betonten, welche Bedrohung die Resolution für verfassungsrechtlich verankterte Rechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit darstellt.
Das neue Dokument geht nun noch weiter, um nicht nur Kritik, sondern jede Debatte über Israels Militäraktionen im Keim zu ersticken. Der Antrag, eingebracht von den parlamentarischen Gruppen von SPD, CDU und CSU sowie den Grünen und der FDP, verlangt die Sicherung des „freien Diskursraums” und den Schutz „jüdischer und israelischer Schülerinnen und Schüler, Studierender, Lehrender und Mitarbeitenden” vor „Anfeindungen und Bedrohungen”. Studierendenproteste und Protestcamps werden ausdrücklich als Orte benannt, von denen „unter anderem antiisraelische und antisemitische Parolen” ausgehen.
Ausgehend von der Zunahme der gemeldeten antisemitischen Übergriffe in Deutschland seit Oktober 2023 – auf die wir noch zurückkommen – macht der Resolutionsentwurf jegliche Unterscheidung zwischen Hassverbrechen gegen jüdische Menschen in Deutschland und Kritik am Staat Israel unmöglich. Das ist gefährlich, gerade vor dem Hintergrund, dass der Internationale Gerichtshof (IGH) den Vorwurf für plausibel hält, Israel begehe in Gaza einen Genozid an Palästinenser:innen.
Warnung an meine Brüder und Schwestern
Wir Palästinenser*innen haben das Recht, uns gegen Israels Besatzung zu wehren. Der Hamas folgen muss man deshalb noch lange nicht, denn sie hat uns der systematischen Vernichtung ausgesetzt. Was wir brauchen, ist ein alternatives Nationalnarrativ.
Am 21. November erließ der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Haftbefehle gegen den israelischen Premier und seinen ehemaligen Verteidigungsminister wegen des Vorwurfs von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ihnen wird vorgeworfen, „Lebensbedingungen zu schaffen, die auf die Vernichtung eines Teils der Zivilbevölkerung in Gaza ausgerichtet sind“.
Vor diesem Hintergrund lädt der Resolutionsentwurf die deutsche Öffentlichkeit dazu ein, zu willigen Helfern von Zensur zu werden, indem er sie warnt, dass „unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit israelfeindliche, antisemitische und verfassungsfeindliche Äußerungen gemacht und Taten begangen werden“.
Lächerlich und gefährlich
Aber: Die Kritik am Handeln einer Regierung ist nicht gleichbedeutend mit der Diskriminierung der Mehrheitsbevölkerung dieses Landes – eine simple soziologische Binsenweisheit, die in der heutigen politischen Debatte in Deutschland geflissentlich übersehen wird. Studierende und Dozent:innen, die gegen die Aktionen des israelischen Staates protestieren, sind demnach nicht per se antisemitisch.
Studierende und andere Menschen weltweit sind zu Recht entsetzt über die Gewalt und die schockierende Grausamkeit der per Livestream übertragenen Bilder: von vielfachem Tod und der Zerstörung von Bildungseinrichtungen sowie medizinischer und ziviler Infrastruktur – Handlungen, die zweifellos einen Völkermord darstellen. Die Straffreiheit der Belagerung des Gazastreifens und die Entmenschlichung des palästinensischen Lebens wurden von der deutschen, britischen und US-amerikanischen Regierung wissentlich gefördert.
Die neue Resolution schweigt zur anhaltenden militärischen Unterstützung Deutschlands für den mutmaßlichen Völkermord, den Israel gegen das palästinensische Volk in Gaza verübt, und unterbindet damit Kritik an der deutschen Mitschuld. Durch die manipulative Politisierung der jüdischen Identität verschleiert diese Resolution absichtlich den rechtswidrigen Tod von potenziell Hunderttausenden von Palästinenser:innen und verschweigt das laufende Verfahren gegen Israel vor dem IGH.
Im Vergleich zu anderen nationalen Modellen für die Verankerung des Schutzes besonders gefährdeter Bevölkerungsgruppen in der staatlichen Politik scheint der in Deutschland verfolgte Ansatz nicht an der Entwicklung eines vielfältigen oder nuancierten jüdischen Lebens interessiert zu sein. Der Regierungskoalition gehören weder Personen jüdischer Herkunft an noch bestehen konkrete Pläne, die Repräsentation von Juden – oder anderen Minderheiten – in Machtpositionen zu erhöhen.
In diesem kritischen Moment sieht es so aus, als werde keine einzige jüdische Person das Recht haben wird, über die geplante Resolution abzustimmen, da die jüdische Bevölkerung im Bundestag kaum vertreten ist. Dies entspricht der langjährigen europäischen Tradition, jüdische Stimmen zu benachteiligen, und findet ein beunruhigendes Echo in der Geschichte: Der einzige jüdische Minister, der bei der Verabschiedung der Balfour-Deklaration in Großbritannien anwesend war, lehnte sie entschieden ab. Er warnte, sie werde im Endeffekt zu weiterem Antisemitismus führen, da sie impliziere, dass Juden und andere religiöse und ethnische Gruppen nicht harmonisch zusammenleben könnten.
Der Resolutionsentwurf enthält vage und wenig beruhigende Versprechen, einen „sicheren Raum“ für Juden zu schaffen, indem zum Beispiel mehr Forschung über Antisemitismus betrieben wird. Aber um welche Art von Räumen und Gemeinschaften geht es? Warum werden der „Nahostkonflikt“ und „Gruppen von außerhalb“ als Schlüsselbereiche für die Bekämpfung von Antisemitismus genannt?
In dieser Hinsicht ist der Resolutionsentwurf hoffnungslos unehrlich. Der Bundestag wendet die höchst umstrittene IHRA-Definition an – deren eigene Autoren sie nicht einmal für die Bekämpfung von Antisemitismus geeignet halten. Darüber hinaus sind Teile des Entwurfs unabsichtlich antisemitisch. Deutsche (als nicht-jüdisch definiert!) werden aufgefordert, ihren Horizont durch eine „Meet a Jew“-Initiative zu erweitern: lächerlich und gefährlich zugleich.
Offen diskriminierend
Weit davon entfernt, die Debatte anzuregen, sieht die Resolution eine Reihe abschreckender Strafen für Andersdenkende vor. Studierende, jüdische Studierende inbegriffen, die Israel zur Beendigung ihres Militäreinsatzes aufrufen, könnten beschuldigt werden, den sicheren Diskursraum verletzt zu haben. „Exmatrikulation” und „weitere rechtliche Möglichkeiten” werden für ominöse „schwere Fälle” empfohlen.
Lehrer:innen sollen in ihrer Ausbildung staatlich genehmigte „adressatengerechte Angebote“ über die Geschichte Israels wahrnehmen, vermutlich, damit sie nichts unterrichten, was der offiziellen Sichtweise widerspricht und somit Zensur provoziert. Aufgeladene Begriffe wie „Missbrauch“ der Meinungsfreiheit werden verwendet, um deutsche Pädagog:innen aufzufordern, ihre Schüler:innen und das Kollegium zu disziplinieren und sie dazu zu bringen, „verbotene Äußerungen und Handlungen“ im Namen des „Zusammenhalts und des gegenseitigen Verständnisses“ zu unterlassen.
Die Resolution ist zwar in der Sprache der höchsten moralischen Rechtschaffenheit verfasst, beruht aber auf einer Reihe von Orwellschen Umkehrungen. Akademiker:innen, die hinterfragen, dass ihre Steuergelder die militärische Zerstörung des gesamten Hochschulsektors in Palästina unterstützen, könnten im Namen der Verteidigung der Wissenschaftsfreiheit verhaftet werden. Studierende und Lehrkräfte, die sich mutig für Frieden und die Einhaltung des humanitären Völkerrechts einsetzen, werden als Bedrohung für die gute deutschen Gesellschaft abgestempelt.
Besonders beunruhigend sind die offen islamfeindlichen und fremdenfeindlichen Elemente der Resolution. Das Innenministerium schreibt die Mehrheit der antisemitischen und antimuslimischen Angriffe Rechtsextremist:innen zu. Und doch stellt die Resolution „Gruppen von außen“ (sprich: muslimische Migrant:innen) in den Mittelpunkt und übernimmt die Rhetorik der Rechtsextremen.
Mit der Behauptung, dass „Personen und Gruppen von außerhalb einen offenen und demokratischen Diskursraum für ihre Propaganda missbrauchen“ (Hervorhebung hinzugefügt), lenkt die Resolution die Verantwortung für Antisemitismus weg von Deutschland und bringt ihn stattdessen implizit mit der „immer diversere[n] Schülerschaft “ in Verbindung.
Die Beschreibung des von der Hamas verübten Massakers wird in den ersten Zeilen des Textes mit einem „Krieg im Gazastreifen“ kontrastiert, ohne Nennung eines Akteurs. Durch die Entscheidung, die Aufmerksamkeit auf den Angriff der Hamas zu lenken und die gewaltige und weiter steigende Zahl der getöteten und systematisch ausgehungerten Palästinenser:innen auszublenden (wie der jüngste Bericht des UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Nahrung hervorhebt), institutionalisiert dieser Entwurf rassistische Falschdarstellungen der aktuellen Ereignisse.
Die geplante Resolution ist als ein auffallend unverfrorener Akt staatlicher Repression zu verstehen, der sich gegen die Solidarität mit palästinensischen Opfern von Kriegsverbrechen richtet. Dabei hat eine Studie der Universität Konstanz (2024) ergeben, dass Antisemitismus an Universitäten weniger verbreitet ist als anderswo in der Gesellschaft. Der aktuelle Resolutionsentwurf übergeht die wichtigsten Studienergebnisse, indem sie jüdische Personen und Organisationen – insbesondere solche ,die die israelische Regierung unterstützen - gegenüber anderen Bürger:innen privilegiert und wissenschaftliche Genauigkeit und Bildung hintanstellt.
Die Resolution erreicht damit das Gegenteil dessen, was in ihrer Präambel gefordert wird: ein deutsches Hochschulumfeld, das offen ist für kritischen Diskurs und Debatte. Sie macht den Schutz einer Minderheit zur Waffe und verfestigt auf rassistische Weise die Haltung, dass die Auslöschung des Lebens im Gazastreifen nicht in Frage gestellt werden darf. Es handelt sich um eine diskriminierende Resolution, die ausdrücklich einige Menschenleben über andere stellt.
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