Islamisten oder Freiheitshelden?
Auf den ersten Blick könnte man meinen, arabische und westliche Medien seien sich ausnahmsweise mal einig: Beide zeigen sich empört angesichts der Todesopfer, beide halten fest, der Angriff habe in internationalen Gewässern stattgefunden, beide berichten von weltweiter Kritik am israelischen Vorgehen.
So weit, so ähnlich. Doch hinter dem scheinbaren Gleichklang verbergen sich ganz unterschiedliche Geschichten. Dabei wird auch deutlich: Die Kluft liegt längst nicht mehr einfach zwischen den arabischen Medien auf der einen und den westlichen Medien auf der anderen Seite. Die Front des Medienkrieges verläuft oft innerhalb des gleichen Landes – und manchmal quer durch eine Redaktion.
Dennoch gibt es Erzählmuster, die im Westen dominant, in der arabischen Welt dagegen selten sind – und umgekehrt. Etwa die Frage "wer auf dem Schiff nun wen angegriffen habe?" Für westliche Journalisten ist sie zentral, für arabische eher zweitrangig.
Für sie beginnt der Angriff an ganz anderer Stelle, spätestens mit der Blockade des Gaza-Streifens. Differenzen innerhalb der arabischen Medien ergeben sich meist erst dort, wo es um die geopolitische Analyse geht und Iran-freundliche Medien ganz anders berichten als die der saudischen oder ägyptischen Regierung.
Fakten! Fakten?
In der Beurteilung des israelischen Angriffs herrscht dagegen pan-arabische Einigkeit: Quer durch Tageszeitungen und Fernsehsender finden sich Begriffe wie "Massaker", "Piraterie" und "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Während in Deutschland FAZ, taz und andere feststellen, dass "weiterhin unklar" sei, "was genau passierte", sind die Fakten aus arabischer Sicht seit der Freilassung der Passagiere recht offensichtlich.
Das mag schlicht an deren von vorneherein israel-kritischeren Haltung liegen. Doch zeigt sich hier auch ein grundsätzlicher Unterschied im Umgang mit Augenzeugenberichten. In Deutschland etwa werden die Passagiere der Mavi Marmara meist als per se anti-israelisch wahrgenommen, ihre Schilderungen haben weniger Gültigkeit als die eines reinen Beobachters. "Die Linke lässt sich von der Hamas einspannen" schreibt nicht nur die Welt, die taz argumentiert ähnlich, wenn auch in einem anderen Ton.
Die deutschen Bundestagsabgeordneten unter den Passagieren landen damit in einer Schublade, aus der sie kaum mehr herauskommen – und Henning Mankell wirkt in der deutschen Presse wie ein verschrobener Agitator, den man inhaltlich nicht zu ernst nehmen dürfe. Umso ernster werden die persönlichen Schilderungen der Passagiere in den arabischen Medien genommen – von Inge Höger erfährt man kurioserweise auf Arabisch fast mehr als auf Deutsch.
Aus Sicht arabischer Journalisten sind es nicht die Aktivisten, die interessengeleitet sind, sondern vor allem die israelischen Regierungssprecher. Von Vertuschungsversuchen wird wie selbstverständlich ausgegangen und dementsprechend häufiger darauf hingewiesen, dass die israelische Armee die Bildhoheit besitzt und keiner ohne die schriftlich eingeblendeten Erklärungen der Armee erkennen könne, welcher schwarze Punkt auf den Bildern nun Soldat oder Aktivist sei.
Dubiose Passagiere auf der Mavi Marmara?
Dass es unter den 700 Passagieren so gut wie alles gibt – von konservativen Islamisten über anti-zionistische Juden bis hin zu linksautonomen Atheisten – kommt dagegen sowohl in den arabischen als auch in den westlichen Medien selten zur Sprache.
Während arabische Kommentatoren sämtliche Passagiere der Mavi Marmara, ungeachtet ihrer individuellen Motivation, zu selbstlosen Helden stilisieren, hat sich in der westlichen Presse eine andere Art der Verzerrung durchgesetzt: Wer als kritischer Journalist gelten will, der muss nach den "islamistischen Verbindungen" fragen und die Organisatoren der Flotille zumindest als "dubios" bezeichnen.
Unter den Tisch fällt dabei eine Frage, die sich eigentlich anschließen müsste: Welche Bedeutung haben die politischen Einstellungen der Passagiere für die moralische Beurteilung des Angriffs?
Rechtlich gesehen keine, in meinungsbildender Hinsicht eine riesige. Dementsprechend groß ist oft auch das redaktionsinterne Gerangel um Deutungshoheiten – manchmal wird es selbst für Zuschauer sichtbar, zumal für diejenigen, die von Al Jazeera Arabic zu Al Jazeera English schalten.
Acht Mitarbeiter des Senderverbunds waren unter den Passagieren der Flotte, der Umgang mit ihren Erzählungen hat je nach Sender eine ganz eigene Färbung.
Auf dem arabischen Sender schildern die freigelassenen Journalisten ausführlich ihre persönlichen Eindrücke, ein libanesischer Kameramann hält dabei seine Tochter auf dem Schoß, ein mauretanischer Kollege erzählt von seinen Gesprächen mit einem alten Palästinenser in der Gefängniszelle.
Ganz anders auf dem englischsprachigen Schwestersender. Persönliche Schilderungen fehlen, die mehrheitlich westlich-geprägten Moderatoren stellen vor allem technische Fragen: Wie ging der Angriff von statten? Und: Gab es Waffen an Bord?
Al Jazeera English (AJE) versucht eine Gratwanderung. Zu den arabischen Sendern kann man ihn kaum zählen, eher ist die Berichterstattung vergleichbar mit der einiger links-alternativer Medien in Europa. Israelische Militärsprecher bekommen auf AJE so viel Sendezeit, wie außerhalb Israels wohl bei keinem anderen Medium mit Sitz im Mittleren Osten. Das Ergebnis könnte allerdings sein, dass israel-kritische Zuschauer aus dem Westen gleich weiterschalten zu Press TV aus Teheran, das sich derzeit als englischsprachiges Sprachrohr der Pro-Palästina-Szene profiliert.
Israel schadet... sich selbst?
Je pro-palästinensischer ein Sender, desto ausführlicher die Berichterstattung über die weltweiten Proteste gegen die israelische Blockadepolitik. Doch auch in den westlichen Medien ist die Aufmerksamkeit für Demonstrationen in Paris, Wien oder London außergewöhnlich hoch.
Was aussieht wie ein gemeinsames Interesse verbirgt allerdings auch hier ganz unterschiedliche Blickwinkel: Arabische Kommentatoren wie Abdelbari Atwan, Chefredakteur der in London erscheinenden Zeitung Al Quds al Arabi, oder die Journalisten des Hisbollah-Senders Al-Manar sehen in den Protesten einen historischen Wendepunkt und glauben die Welt auf ihrer Seite.
Manchmal scheint es, als habe sich die Tragödie nach der Freilassung der Passagiere gar in einen Triumph verwandelt. Von Hamas-nahen Medien bis hin zur saudisch-finanzierten Zeitung Asharq Al Awsat besteht weitgehender Konsens darüber, dass "Israel den PR-Krieg verloren" habe, da es sich – so der Ägypter Sayed Yassin in Al Hayat - "nicht nur gegen die Palästinenser, sondern gegen die Menschlichkeit gestellt" habe.
Womöglich haben die Kommentatoren bei ihrem Blick in die westliche Presse nicht genau genug hingeschaut. Zwar heißt es dort fast einhellig, Israel wäre zunehmend isoliert und hätte ein Image-Problem, der Tenor ist jedoch: "Israel schadet sich selbst" – und daraus folgt, was Peter Münch in der Süddeutschen Zeitung folgendermaßen zusammenfasst: "Ein Land, das von so vielen Seiten angefeindet wird, ist dringend auf Freunde angewiesen." Von tatsächlichem politischen Druck auf Israel ist kaum die Rede, die Welt rät auf ihrer Website schlicht und einfach: "Israel muss Gaza klüger blockieren".
Während der westliche Medien-Mainstream damit beschäftigt ist, den eigenen Kurs nach dem Motto "Kritik ja, aber nicht zu heftig" zu steuern, verrennen sich arabische Medien oft in der Emotionalität, zementieren Opferlogiken und zelebrieren, wo es nicht viel zu feiern gibt.
Arabische Opferlogik
Und manche naheliegenden Fragen fallen dann auf beiden Seiten unter den Tisch: Wie etwa kommt es, dass die Zahl der Todesopfer am ersten Tag weltweit als "mindestens fünfzehn" angegeben wird und am nächsten Tag unkommentiert auf neun fällt? Und wieso fehlt in der arabischen Welt trotz leidenschaftlicher Plädoyers für Gaza jede Debatte über Sinn und Unsinn einzelner Protestformen?
Es sei "den Märtyrern" zu verdanken, die Aufmerksamkeit der Welt auf die Blockade gelenkt zu haben, behaupten Hamas-Vertreter. Vielleicht mag das faktisch richtig sein: Hätte es keine Toten gegeben, die internationale Aufmerksamkeit für die Blockade des Gaza-Streifens wäre noch immer so mager wie vorher. Und doch bleibt dies ein zynischer Gedanke, der arabischen und westlichen Journalisten gleichermaßen zu denken geben müsste.
Stephanie Doetzer
© Qantara.de 2010
Stephanie Doetzer arbeitet als freie Autorin mit Sitz in Katar. Bis vor kurzem arbeitete sie als Fernsehjournalistin für Al Jazeera, davor als Redakteurin und Reporterin beim SWR.
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de
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