"Die alevitischen Geistlichen brauchen eine moderne Ausbildung"
Herr Korkmaz, Sie sind Leiter der Alevitischen Akademie in Mannheim. Was genau tut die Akademie?
Sedat Korkmaz: Zum einen betreibt die Akademie Quellenforschung. Wir haben Quellen, die auf Osmanisch verfasst sind und die aus sprachlichen Gründen von unseren Gemeindemitgliedern nicht verstanden werden. Diese Texte werden bearbeitet und übersetzt. Außerdem bietet die Akademie Grundlagenseminare für Jugendliche an, damit sie lernen können, was das Alevitentum ist und ihre Identität kennen.
Wir sind europäisch aufgestellt. In Österreich haben wir am Lehrplan für die Schulen federführend mitgearbeitet. An den Universitäten Innsbruck und Wien haben wir bei der Einrichtung der alevitischen Religionspädagogik mitgewirkt und auch an der Ausbildung der Religionslehrer. Wir sind europäisch aufgestellt.
Viele alevitische Kinder und Jugendliche wissen über ihre Religion nicht viel. Meistens können sie nur sagen, was das Alevitentum NICHT ist. Wie kommt das?
Korkmaz: Es ist tatsächlich so, dass alevitische Kinder, wenn sie gefragt werden, welchem Glauben sie angehören, sich zum Alevitentum bekennen. Aber wenn man genauer nachfragt, sind sie oft überfordert: Was ist denn das Alevitentum? Wer sind die Aleviten? Die meisten Jugendlichen sagen darauf nur, was sie nicht sind: Wir besuchen keine Moschee, alevitische Frauen tragen kein Kopftuch, wir beten nicht fünfmal am Tag, wir fasten nicht während des Ramadans. Damit grenzen sie sich insbesondere von sunnitischen Muslimen ab. Es wäre aber wichtig, dass sie das Alevitentum auch mit positiven Inhalten füllen können. Doch das fällt vielen schwer, weil es an der religiösen Unterweisung fehlt.
Wie fassen Sie die wichtigsten alevitischen Glaubensüberzeugungen zusammen?
Korkmaz: Wichtig ist für die Aleviten, dass jeder Alevite als Laie einen bestimmten Pir (Geistlicher) hat. Das ist eine Beziehung, in die ein Alevite hineingeboren wird. Die Aleviten versammeln sich in einem Gotteshaus, das auch Cemevi (Cemhaus) genannt wird. Frauen und Männer nehmen gemeinsam am Cem – dem Gottesdienst – teil. Es ist für jeden Aleviten Pflicht, an einem solchen Gottesdienst mindestens einmal im Jahr teilzunehmen, denn dies ist der Ort, wo die Beichte stattfindet. Anders gesagt: Aleviten müssen hier auf Erden Rechenschaft ablegen, damit sie ohne Schuld zu Gott gehen können. Das Ziel ist, die Vollkommenheit zu erlangen und Gott zu erkennen. Es gibt die sogenannten "vier Tore" und die "40 Stufen", die eine Richtschnur bilden und den Weg ebnen, damit diese Vollkommenheit erreicht wird. Auf diesem Weg wird der Alevite vom Pir begleitet.
Wir haben auch eine Wahlgeschwisterschaft, Müsahiblik genannt, bei welcher vier Personen – zwei Ehepaare – ein Gelübde abgeben, dass sie Verantwortung für einander bis zum Lebensende übernehmen. Dieses Gelübde dient generationenübergreifend. Das heißt, es bindet nicht nur diese vier Personen, sondern auch die Nachfahren der vier Personen – und zwar über sieben Generationen. Damit ist der Zusammenhalt dieser Familien auch in schwierigen Zeiten gesichert. Es sind Glaubenselemente wie das Fasten zur Muharrem-Zeit, die gleichzeitig eine Trauerzeit ist und uns auch von anderen muslimischen Glaubensrichtungen unterscheidet. An den 12 Trauertagen im Monat Muharrem bleiben Aleviten Feierlichkeiten fern und leben in Enthaltsamkeit. Es ist eine Zeit der Besinnung und Erinnerung an das Martyrium des Imam Hussein in Kerbala. Der 13. Tag des Muharrem ist der höchste Feiertag der Aleviten, der Aschüre-Tag.
Welche sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten schriftlichen Quellen des Alevitentums?
Korkmaz: Es sind verschiedene Bücher: der Koran, das "Gebot" (Buyruk), die sogenannten Maqalat und das Velayetname.
Es heißt, dass viele Aleviten von heute die spezifisch alevitischen Schriftquellen überhaupt nicht kennen.
Korkmaz: Ja, so ist es. Man muss sehen, dass diese schriftlichen Quellen ausschließlich von einem engen Personenkreis verwendet wurden. Das waren geschichtlich in erster Linie die alevitischen Geistlichen. Heute haben wir jedoch eine große Öffnung, und daher benötigen wir diese Quellen auch für die breite Öffentlichkeit.
Sie plädieren dafür, die schriftlichen Quellen des Alevitentums ins Deutsche zu übersetzen.
Korkmaz: Ja, das ist absolut notwendig. Die meisten Quellen gibt es bislang nur in arabischer, persischer oder türkischer Sprache. Oder auf Osmanisch, das nicht einmal türkische Muttersprachler lesen können. Unsere Arbeit hier findet aber in deutscher Sprache statt. Unsere Kinder sprechen die deutsche Sprache, der alevitische Religionsunterricht wird auf Deutsch abgehalten, die Religionspädagogik wird in deutscher Sprache gelehrt, so dass wir auch diese Quellen in deutscher Sprache benötigen. Wir brauchen wissenschaftlich begleitete fundierte Übersetzungen.
Die Aleviten treffen sich nicht in Moscheen, sondern im Gemeindehaus, dem sogenannten "Cem". Beim alevitischen Ritual und der Unterweisung spielt der "Dede" eine wichtige Rolle, bzw. seine weibliche Entsprechung, die "Ana". Neben dem "Cem" wird aber auch die Schule immer wichtiger. Rund 4.000 Kinder und Jugendliche nehmen in Deutschland mittlerweile in öffentlichen Schulen an alevitischem Religionsunterricht teil. Was heißt das für die "Dedes" und "Anas", wenn Teile der alevitischen Glaubensinhalte in Schulen vermittelt werden?
Korkmaz: Die "Dedes" und "Anas" sind diejenigen, die den Glauben tradieren und praktizieren, sie bilden die Geistlichkeit. Sie haben die Leitung des Gottesdienstes inne, und sie übernehmen die religiöse Unterweisung der Laien. Diese Tradition wird auch weiter fortgesetzt, aber sie verändert sich stark. Früher bildete sich die Gemeinde um einen bestimmten Geistlichen herum. Es handelte sich nicht um Ortsgemeinden, sondern um Personalgemeinden. Die Laienfamilien an verschiedenen Orten wurden von den Geistlichen alljährlich besucht. Heute haben wir Ortsgemeinden und die sogenannten Cemhäuser. Das sind Versammlungsorte, dort gibt es einen Vorstand, der entscheidet, wer den Gottesdienst leitet, welche Aufgaben der Geistliche übernimmt. Dadurch wird die Bedeutung der Geistlichkeit ein wenig zurückgedrängt.
Aber es ist natürlich sehr wichtig, die Beziehung zwischen den Laien und den Geistlichen aufrecht zu erhalten. Für mich reicht die Beziehung zum Cemhaus nicht aus. Im Alevitentum gibt es eine vererbbare Beziehung zwischen einem Laien und "seinem" Geistlichen. Diese ist fester Bestandteil des Glaubens und ist zu pflegen. Der Unterricht in den Schulen wird dem Bedürfnis an religiöser Unterweisung gerecht. Wir haben nicht in ausreichender Anzahl Geistliche, die dieses Ehrenamt ausüben. "Dedes" und "Anas" können diese Aufgabe nicht alleine bewältigen. Nur gemeinsam mit den Religionslehrern kann dieser Mangel gedeckt werden.
Religiöse Zugehörigkeit und religiöse Ämter, die vererbt werden? Wie lässt sich das mit Demokratie und Entscheidungsfreiheit des Einzelnen vereinbaren?
Korkmaz: Wir glauben daran, dass das göttliche Licht, welches sich im Propheten Mohammed und seinem Schwiegersohn Ali offenbart, in dieser Generationenkette fortgeführt wird. Daher ist diese Erblichkeit von besonderer Bedeutung und wir wollen sie beibehalten. Die traditionelle Geistlichkeit können wir aber nur dann erhalten, wenn wir sie intellektuell und wissensmäßig mindestens auf den gleichen Stand bringen wie die Lehrbeauftragten für die neu auszubildenden Religionslehrer. Wir brauchen daher auch für die Geistlichkeit auf jeden Fall Aus- und Fortbildungsmaßnahmen.
An der pädagogischen Hochschule Weingarten gibt es bereits seit längerem Seminare für angehende alevitische Religionslehrkräfte. In Hamburg existiert seit kurzem eine Professur für Alevitentum und Dialog, die Inhaberin des Lehrstuhls, Professor Dr. Handan Aksünger hatte Ende Januar 2015 ihre Antrittsvorlesung gehalten. Was erwarten Sie von dem neu eingerichteten Lehrstuhl?
Korkmaz: Es ist äußerst erfreulich, dass nun auch für die alevitische Theologie eine Professur eingerichtet wurde. Dieser Meilenstein in der alevitisch-deutschen Geschichte fand in der Öffentlichkeit bisweilen keine ausreichende Beachtung. Sicherlich ist der Wert dieser Professur für die Aleviten immens größer als für die deutsche Gesellschaft, die das Alevitentum noch nicht ausreichend kennt. Die Theologie ist aber für Aleviten auch keine Selbstverständlichkeit mehr. Die politisch linksorientierte Bewegung innerhalb der alevitischen Gesellschaft hat eine zunehmende Distanz zur Religion aufgebaut. Daher verbinden heute viele Aleviten das Alevitentum mehr mit universellen Werten als mit dem eigentlichen Glauben.
Gerade in dieser Hinsicht wird nun von dieser Professur erwartet, dass nach Antworten auf diese Fragen gesucht wird. Religionwissenschaftliche Arbeiten können aufklären, die Arbeiten in den Gemeinden erleichtern, jungen Menschen eine Orientierung geben, Geistliche in ihrer Praxis stärken.
Davon abgesehen ist der interreligiöse Dialog ein Feld, der im Bereich des alevitisch-christlichen Dialogs durch diese Arbeiten sicherlich im erforderlichen Maße gefördert werden wird. Auch in diesem Bereich besteht noch viel Nachholbedarf. Es wird sicher nicht leicht sein, all diesen Erwartungen gerecht zu werden. Aber Frau Aksünger genießt das Vertrauen der unterschiedlichen alevitischen Organisationen.
Innerhalb der alevitischen Gemeinde Deutschlands gibt es tiefgreifende politische Differenzen, und das Alevitentum hierzulande ist auch religiös alles andere als einheitlich aufgestellt. Kann ein einzelner Lehrstuhl für alevitische Theologie dieser Vielfalt gerecht werden?
Korkmaz: Wir kommen um eine gewisse Standardisierung nicht herum, auch aufgrund der begrenzten materiellen Ressourcen. Dadurch wird sicher manches verloren gehen oder in den Hintergrund gedrängt. Wir sollten versuchen, zumindest Teile der mündlichen Überlieferung zu bewahren. Prägend für die Standardisierung wird sicher erst einmal die Richtung der Kizilbas sein, das ist die Hauptrichtung der Aleviten. Eine einzelne Professur ist angesichts der Fülle wissenschaftlicher Fragen sicher nicht ausreichend, die zu erforschen und zu beantworten sind. Aber es ist wichtig, dass wir mit dieser Arbeit beginnen. Ich bin mir sicher, dass die Theologie auf viele Fragen Antworten geben wird. Nicht zuletzt werden unsere jungen Menschen lernen, ihren Glauben eigenständig zu erklären ohne das primäre Bedürfnis, sich von anderen abgrenzen oder mit anderen messen zu müssen.
Das Interview führte Martina Sabra.
© Qantara.de 2015