Integration mal andersherum
In einigen deutschen Städten haben sich Künstler aus verschiedenen ethnischen Gruppen für musikalische Projekte zusammengetan. Sie profitieren von der Vielzahl der Kulturen in Deutschland und machen Weltmusik. In Zeiten des Dauerthemas "Integration" sind sie der Gesellschaft einen deutlichen Schritt voraus. Von Ayla Yildiz
"Orientation", "Cazyapjazz": Die Namen der Bands sind definitiv Programm. Der Sprung aus der Nische ins Rampenlicht ist ihnen erfolgreich gelungen. Ihre Kompositionen sind von diversen kulturellen Einflüssen geprägt.
Der Blick in die Musik- und Kulturszene zeigt, dass Musiker mit Migrationshintergrund schon seit Jahren gemeinsam mit deutschen Künstlern musikalisch Grenzen überschreiten, indem sie beispielsweise Lieder aus der Türkei, überhaupt volkstümliche Klänge aus der Mittelmeerregion und dem Orient, mit modernen westlichen Einflüssen verbinden.
Auch der für westliche Ohren ungewöhnliche 9/8-Takt wird schonungslos mit Reggae und Funk fusioniert. Scheinbar widersprüchliche Musikstile finden so zueinander.
Akzente aus Berlin und München
"Wir sind 'Orientation', machen Musik und kommen aus Berlin." Ein Statement mit dem Bandleader Andreas Advocado zu verstehen gibt, wo ihre Basis ist. Die Stadt ist geprägt durch unterschiedliche kleine Szenen und unüberhörbar auch durch eine bunte Migrantenkultur.
In Kreuzberg auf einer türkischen Hochzeit begegnen sich Advocado und der Sänger und Komponist Bekir Karaoğlan. 1997 gründen sie "Orientation" – vertreten sind in der Band auch Musiker aus Iran und Aserbaidschan. Eigene türkische, auch Arabesk – eine orientalische Version von Herz-Schmerz-Musik – angehauchte Songs, kombinieren sie mit Jazz und Funk.
"Wir wollen vor allem zeigen, dass die Musik des Orients und des Okzidents hervorragend für eine Symbiose geeignet ist. Das, was der Okzident aufgrund seiner temperierten Stimmung dem Orient an Harmonie voraus haben mag, macht der Orient durch seine unendlich vielfältigen Melodien und Rhythmen wieder wett. Kombiniert man beides, ergeben sich die facettenreichsten Möglichkeiten."
Advocado hat auch nichts dagegen, wenn der Stil von "Orientation" als New-Oriental-Soul oder Arabesk-Soul bezeichnet wird. "Wir wollen die Herzen aller Menschen durch unsere Musik erreichen: Jung und Alt, egal welche Hautfarbe, Herkunft und Religion. Insofern ist unsere Musik im besten Sinne populäre Musik, also Pop."
"Cazyapjazz" texten nicht, ihre Instrumente sprechen für sich. Im Jahr 2003, als Semih Yanyali, in München geborener Istanbuler, auf experimentierfreudige Musiker trifft, entsteht "Cazyapjazz" (frei übersetzt: mach Jazz, mach Jazz).
Sie sind von der musikalischen Vielfalt Istanbuls angetan, arrangieren Instrumentalmusik mit modernen Jazzeinflüssen und orientalischen Elementen, spielen mit Clubbeats alte nostalgische Stücke türkischer Kunstmusik (Sanat Müziği) neu ein und improvisieren mit dem 9/8-Takt.
Wie ein Roma-Musiker fasziniert Matthias Kaiser auf seiner Klarinette und füllt die Clubs mit der besonderen Atmosphäre traditioneller Klänge und Tänze des Balkans.
Morgendämmerung am Rhein
Hinter "Kent Coda", dem türkisch-österreichisch-deutschen Trio aus Köln, stehen die Musiker Ögünç Kardelen, Christoph Guschlbauer und Timo Ehrler. Außer in den Texten ist der türkische Einfluss kaum zu hören. Mit der Melange aus Rock, Pop und Punk überzeugen Kent Coda sowohl die deutsche als auch die stetig wachsende türkischstämmige Indie-Rock-Community.
Sanft erklingt die Musik von "Tan" (zu Deusch: Morgendämmerung) aus Düsseldorf. Auf ihrer CD Yar diye diye – Longing for you harmoniert Jazz mit Titeln wie Beri gel, der von Sehnsucht und Sorge eines ostanatolischen Dorfs handelt, oder Ben yana, einem Gedicht von Pir Sultan Abdal, dem türkisch-alevitischen Dichter aus dem 16. Jahrhundert, das heute als mystisches Lied bekannt ist.
Das Ganze begleiten virtuose Musiker auf ihren Instrumenten – Saxophon, Kontrabass, E-Piano, die türkische Trommel Darbuka und die Kurzhalslaute Ud. Resultat: ethno-jazzige Versionen von legendären Volksliedern.
Die Lieder, sie müssen von ganzem Herzen kommen, singt Ergün Aktoprak. Doch auch der deutsche Background mit Jürgen Dahmen und Reiner Witzel meistert die Aufgabe mit Bravour.
Integration mal andersherum. "Unsere Musik verstehen wir gleichzeitig als Kommunikationsmedium. Genau wie niveauvolle Gedichte nicht platt übersetzt, sondern nachgedichtet werden, möchten wir auch die türkische oder anatolische Musik "nachdichten" und sie mit einer modernen Auffassung so rüberbringen, dass sie jenseits von Bellydance-Klischees auf einer bestimmten kulturellen Ebene, passend zu unserem Konzept und anspruchsvollem Zielhörerkreis, wahrgenommen und verstanden wird", so Ergün Aktoprak.
Musik für eine weltoffene Community
Was als Experiment begann, kann sich in der globalisierten Welt sehen lassen. Abseits des Mainstreams betreiben diese Künstler ihre Musik professionell. Mit drei eigenen Alben und vertreten auf vielen Compilations und Soundtracks verkörpern Orientation den multikulturellen Schmelztiegel von Berlin.
"Cazyapjazz" spielen zwischen Isar und Bosporus auf großen Festivals. Zwei von ihnen – "Kaiser&Semih" – touren erfolgreich durch die Münchener und Istanbuler Jazzszene.
"Tan" setzen live auch auf DJ-Performance. Hudey, ein Lied, das seit Jahrhunderten nur vom Saiteninstrument Saz begleitet wird, übertrifft, gemixt mit Scratches an den Plattentellern, alle Erwartungen. Sie alle wollen weltoffene Menschen erreichen, die neugierig sind auf das, was deutsche und türkische Musiker gemeinsam zum Ausdruck bringen. Musik ohne Vorurteile.
"Tagespolitische Themen greifen wir nicht auf", so Advocado. "Unsere Sprache ist die Musik, unsere Texte handeln von der Liebe, von der Familie, der Einsamkeit." Ergün Aktoprak und Jürgen Dahmen sind auch beim Projekt Jazzpool NRW, das die besten improvisierenden Musiker des Landes zusammenführt, mit der Gruppe Yan Yana (türk.: Seite an Seite) dabei.
Kunst von Migranten kann Verständigungsbrücken schlagen, beteiligen sich auch Deutsche daran, öffnen sich Horizonte. Der Begriff Integration wird unterschiedlich interpretiert, aber wenn Integration als Prozess verstanden wird, bei dem alle gemeinsam unterwegs sind, befinden sich diese interkulturellen Musikprojekte auf dem richtigen Weg.
Ayla Yildiz
© Goethe-Institut 2009
Qantara.de
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