Alle guten Geister
Manche behaupten, das Gnawa-Festival in Essaouira habe sich zum größten Musikfestival auf dem afrikanischen Kontinent entwickelt. Ganz sicher aber wird man weltweit kaum ein anderes Festival finden, das sich derart der Fusionen und Grenzüberschreitungen verschrieben hat.
Auf prächtig dekorierten Bühnen vor den Stadtmauern, kleinen Veranstaltungsorten im Herzen der marokkanischen Metropole sowie auf zwei Bühnen am Strand wird vier Tage und Nächte lang jede nur denkbare Musikart afrikanischen Ursprungs mit der suggestiven Musik der Gnawa, der Nachfahren schwarzer Sklaven aus Westafrika, vereint.
Schon von weitem hört man die Gnawa-Musiker, deren Meister auf der dreiseitigen Basslaute die Grundmelodie vorgibt, die seine Tänzer mit klirrenden Metallkastagnetten rhythmisch unterlegen. Er erhebt seine rauchige Stimme, ruft mit rituellen Texten einzelne Geister an. Seine Musiker wiederholen den Refrain.
Ein Eldorado für Aussteiger und Hippies
Darüber improvisieren Jazz-, Funk-, Ethno-, sogar Technomusiker aus aller Welt. Eine Tradition, die bis tief in die 1960er Jahre zurückreicht. Damals entdeckte der Jazzpianist Randy Weston die Trancemusik der Gnawa. Später, in den Siebzigern, als Marokko Reiseziel von Aussteigern und Hippies wurde, kam Jimi Hendrix. Ihm folgten Cat Stevens, Bob Marley, Peter Gabriel, Carlos Santana und viele mehr.
Dieses Jahr erwartete man den einstigen "König des Rai", den Algerier Khaled. Ihn hatte der Gastdirigent der WDR Big Band aus Köln, Michael Gibbs, gewinnen können. Auf einer Pressekonferenz sitzt Gibbs auf einem marokkanischen Kissen und erklärt, wie er durch den algerischen Schlagzeuger Karim Ziad Musikstar Khaled für eine Fusion mit der Gnawa-Gruppe von Hamid El Kasri hatte gewinnen können.
Angst vor den Geistern der Gnawa?
Der gemeinen Frage eines marokkanischen Journalisten, ob seine Band nicht Angst vor den Geistern der Gnawa habe, weicht er geschickt aus, beschwört den "Esprit" aller guten Musik, die einen berührt, ob man sie nun versteht oder nicht. Schön gesagt, Applaus.
In den Gassen der Altstadt ist Khaled in aller Munde, und Hamid El Kasri, der Gnawa-Meister aus Rabat. Gnawamusik nämlich hat in Marokko einen kaum geringeren Kultstatus als Rai oder europäischer Pop.
Ich streife durch die Stadt, suche nach den kleinen Bühnen und Plätzen, auf denen in früheren Jahren kostenlos Gruppen auftraten. Für das Festival ließe sich auch kaum ein besserer Ort finden als die malerische Hafenstadt Essaouira.
Einst der erste Handelsplatz Marokkos, verband sie die Karawanen aus Timbuktu mit den Seehandelslinien nach Europa und in die neue Welt. Aus Afrika kamen nicht nur Elfenbein, Goldstaub und Straußenfedern, sondern auch Sklaven, die sich in diesem Schmelztiegel als Sufi-Bruderschaft der Gnawa organisierten.
Eine multireligiöse Geisterschar
Bis heute gelten die Gnawa als Heiler, denn sie haben Zugang zu den Geistern, die Krankheiten auslösen. Sie kennen schwarzafrikanische, berberische, muslimische, jüdische und vereinzelt sogar christliche Geister.
In der gut erhaltenen Festungsanlage treffe ich einen alten Bekannten, der sich lange vor dem Gastdirigenten Gibbs von München aus aufgemacht hat, musikalische Brücken zu schlagen: Der Sackpfeifenspieler Thomas Gundermann.
Jahr für Jahr tummelt er sich auf dem Festival, hat schon 2006 mit der Gnawa-Gruppe von Abdellah Guinea gespielt, einem Bruder des berühmtesten Gnawa-Meisters Mahmoud.
Mit dem jungen Meister Said Boulhimas, der vor ein paar Jahren als das größte Nachwuchstalent der Gnawa gehandelt wurde, ist er ebenso aufgetreten, wie mit den Fusion-Gruppen Bleu Mogador und Ganga-Fusion.
Dieses Jahr aber läuft es nicht gut für ihn. Abdellah hat keinen Auftritt bekommen, Said hat sich gar mit allen überworfen. Lediglich Bleu Mogador treten wieder auf, sind aber gerade erst aus Bordeaux zurück.
Keine Zeit für eine gemeinsame Probe. Thomas aber lässt sich nicht beirren. Nicht einmal, als er bei seinem einzigen offiziellen Auftritt unverstärkt spielen muss und untergeht. Unverdrossen musiziert er weiter auf Straßen und Plätzen in kleinen, schnell zusammengestellten Formationen.
Musikalisches Kommunizieren über alle Grenzen
Thomas kann das, er ist Improvisator. Und Improvisation, das musikalische Hören und Sprechen über alle Grenzen hinweg, ist für ihn Anlass, immer wieder hierher zu kommen.
Das Publikum goutiert es, spricht ihn überall an, lässt sich mit ihm fotografieren, sammelt sich, wartet schon, dass er wieder spielt.
Auf den großen Bühnen tritt derweil Mahmoud Guinea auf, das Urgestein der Gnawa.
Seine Musiker stecken in tief roten, grünen und gelben Gewändern, er aber trägt weiß und zieht die Publikumsmassen in Bann. Ein Heimspiel, zumal die brasilianisch-deutsche Begleitgruppe Afoxé dem Candomblé verbunden ist, einem brasilianischen Verwandten der Gnawa.
Verkopfter französischer Elektro-Jazz
Mahmoud muss sich kaum auf die Trommler, Sänger und Tänzerinnen einstellen. Seine Musiker treten einer nach dem anderen vor, ihre tänzerischen Bewegungen spielen auf die Jagd und ihre alte Heimat südlich der Sahara an.
Nachfolgend brilliert die französische Elektro-Jazz-Gruppe Sixun zwar mit ihren komplexen Arrangements, lässt das Publikum aber recht kalt - einfach zu verkopft, zu wenig aus der Hüfte.
Ich mache mich auf den Weg zu einer nächtlichen Trancezeremonie, die im Heiligtum der Gnawa stattfindet. Dieses Jahr kostet das Konzert einen solch gepfefferten Eintritt, dass ich mich zwischen unter lauter Europäern und wohlhabenden Marokkanern wiederfinde. Lediglich die Bewohner des Hauses fallen aus dem Rahmen.
Psychotherapie auf afrikanisch
Sie gehören, wie viele Gnawa, zu den Ärmsten Essaouiras. Die Frauen sind stämmig und wunderbar vulgär, die Männer dünn und blass, wie der Gnawa-Meister des Abends, Allal Soudani. Mit ihm habe ich schon 2004 ein Interview geführt, bei dem sein Joint nie ausging. Er ist noch grauer geworden, aber seine Gruppe besticht durch Farbenpracht und schönen Gesang.
Farbige Tücher werden den Tänzern übergeworfen. Jede Farbe spricht einen Geist an, besänftigt ihn. Farbe für Farbe, Geist für Geist geht es durch die Nacht. Ein klappriger Jüngling tanzt, bis er bei einer Farbe in die Knie geht. In der Trance besänftigt er seinen Quälgeist, Psychotherapie auf Afrikanisch.
Das feine Publikum staunt über die Geistfrau Lala Mira, die dem Parfüm verfallen ist und uns damit besprenkelt, bis sie selbst ekstatisch aus der Parfümflasche trinkt. Allzu schnell folgt der Tänzer des Sidi Hamou, der mit dem Messer tanzt.
Und schon erlischt das Licht und eine unglaublich voluminöse Frau tritt mit einem Bündel brennender Kerzen vor: Lala Malika. Sie wäscht ihre Arme, ihr Gesicht in den Flammen. Ihr flackernder Anblick lässt sie selbst schon als Geist erscheinen.
Nach zwei Stunden endet die Zeremonie. Die Europäer sind begeistert, aber die Marokkaner protestieren lautstark: Eine Lila dauert gewöhnlich mindestens fünf bis sechs Stunden. Sie wurden betrogen!
Jimi Hendrix auf der traditionellen Berbergeige
Die Sensation des nächsten Tages: Der indische Tablaspieler Amrat Hussain mit seinem Trio, einem französischen E-Gitarristen und einem Bassisten, an sich schon eine wilde Mischung.
Auf der Bühne spielt er zusammen mit Foulane, der auf einer traditionellen Berbergeige nach eigenem Bekunden Jimi Hendrix nacheifert, und dem sehr beweglichen Gnawa-Meister Abderrahim Benthami. Die Auflösung aller Grenzen, Indien und Jazz und Berber verschmelzen mit Gnawa, werden zu Gnawa und sind doch etwas Neues, bisher Ungehörtes.
Amrat Hussain erklärt sein "Rezept": Die Tabla sieht nicht nur aus wie ein Ofen mit Herdplatten – auf ihr lassen sich auch internationale Gerichte kochen.
Die schöne Sängerin Babani Kone, in ihrem Heimatland Mali ein Star, bringt hingegen Wohlbekanntes zu Ohr. Anders ihr senegalesischer Kollege Solo Cissokho, der mit dem malischen Saiteninstrument Kora nach Mitternacht mit Tyour Gnaoua und den Musiciens de Jouala aus Agadir zu einer afrikanischen Melange verschmilzt.
Bab Marrakech, der große Platz vor den Toren Essaouiras, füllt sich frühzeitig mit Besuchermassen. Es ist unmöglich, dort noch einen guten Platz zu ergattern. Eine marokkanische Fernsehredakteurin holt mich vor die Bühne, vis-à-vis mit den Musikern. Gibbs hat die tradierten Stücke der Gnawa für sein Ensemble arrangiert, die improvisierten Phrasen in Noten festgeschrieben.
Gnawa-Meister Hamid El Kasri macht den Anfang und ungezählte Münder stimmen ein, Call-and-Response, jeder Ton, jeder Schlag, jedes Wort ist bekannt. Das Publikum wogt, vorne schleudern Mädchen ihre langen Haare, auf der Bühne wirbeln die Tänzer El Kasris, und dahinter sitzt die WDR-Big-Band vor ihren Noten.
Steifer Deutsch-Jazz, wilder marokkanischer Tanz
Zugegeben, es ist nach Mitternacht, Geisterstunde, doch die Geister könnten unterschiedlicher kaum sein. Blass und steif spielt das Orchester, gebannt von den Noten. Brav kommt ein Bläser nach dem anderen für sein Solo vor, brav nehmen sie den verhaltenen Applaus entgegen und setzen sie sich wieder.
Ohnehin sind alle Augen auf El Kasri gerichtet, und dann, in Sprechchören beschworen, steht Khaled auf der Bühne, die Mädchen kreischen, werfen Schals auf die Bühne, ein Brausen und Schreien, zum Glück ist hier kein Alkohol im Spiel.
Ein leichtes Lächeln der WDR-Band, dann spielen sie, routiniert. Nicht schlecht, nein, es handelt sich um gestandene Musiker, die zumeist Solokarrieren hinter sich haben. Hier wirken sie bizarr deplaziert neben den Gnawa.
Und neben dem Algerier Khaled, der sich – angesichts der politischen Spannungen zwischen Algerien und Marokko – die marokkanische Fahne umwirft und zum Ausdruck bringt: 'Es kommt nicht darauf an, welcher Nation Du angehörst, sondern welches Geistes Kind Du bist!'
Vergeblich versuchen junge Männer im Publikum, ihre leicht bekleideten Schwestern, die völlig außer rand und Bann sind, zu beruhigen. Alle Dämme scheinen gebrochen zu sein - und die Gespenster der WDR-Big-Band schnell vergessen.
Am nächsten Abend sitze ich vor dem Fernseher. Zur besten Sendezeit erscheint im ersten marokkanischen Fernsehen Thomas Gundermann - ein ausführliches, wunderbares Porträt des Münchners, den sie inzwischen "Maâlem" nennen, Meister Thomas. Eine kleine Ehrung für den bescheidenen Musiker, der sich langsam und von unten her den Weg bahnt zu den Geistern der Afrikaner.
Andreas Kirchgäßner
© Qantara.de 2009
Andreas Kirchgäßner ist Publizist mit dem Schwerpunkt Afrika. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Jugendromane, Hörspiele und Feature-Produktionen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
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