Der Gast ist immer Mitbürger
Frau Benhabib, Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre waren Sie in Frankfurt am Main Stipendiatin und sind jetzt nach einem langen USA-Aufenthalt Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin. Welche Entwicklung hat Deutschland in der Zwischenzeit gemacht?
Şeyla Benhabib: Die politische Kultur in Deutschland hat sich sehr verändert. Nach der Wende ist das Land introspektiver geworden, die politischen Auseinandersetzungen sind nicht mehr so hart wie damals, und der öffentliche Diskurs heute ist dominiert von der Religionsdebatte. Vor allem aber fehlt es in Deutschland an Grundsatzkritik. Zweifelsohne hat das auch mit dem Ende der marxistischen Gesellschaftsideologie als Alternative zu tun.
Wo müsste eine Grundsatzkritik heute ansetzen?
Benhabib: Bei der unzureichenden Demokratisierung und dem unzureichenden Mentalitätswandel in der deutschen Gesellschaft. Es wird der Anschein erweckt, man komme hier mit dem Begriff einer multikulturellen, liberalen Demokratie zurecht. Daran glaube ich nicht. So ist in der öffentlichen Debatte etwa stets von dem "jüdisch-christlichen Erbe" die Rede. Aber das jüdische Erbe ist nicht so präsent, wie gemeinhin behauptet wird. Außerdem gibt es in Deutschland immer noch das Problem, dass der Islam beziehungsweise Menschen muslimischen Glaubens als "anders" empfunden werden. Der Multikulturalismusdiskurs ist hier eher instrumentell: Es wird eingesehen, dass für die globale, kapitalistische Entwicklung bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Wissenschaftler und Ingenieure aus Indien gefördert werden sollten. Das ist eine instrumentelle Attitüde, keine Grundhaltung.
Als es in den achtziger Jahren zu dem Begriffswandel von "Gastarbeiter" zu "ausländische Mitbürger" einsetzte, war das ein Schritt hin zu einem legalen Pluralismus. 1990 kam das Bundesverfassungsgericht aber zu dem Schluss, dass Ausländer keine kommunalen Wahlrechte haben dürfen. In den neunziger Jahren gab es zwei gegenläufige Entwicklungen. Zunächst war da das neue Einbürgerungsgesetz, das wir alle begrüßt haben. Als die Menschen sich dann einbürgern lassen wollten, kam es zu Schikanen; es gab eine große Aktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Das Gesetz, so begrüßenswert es ist, hat nicht ausgereicht, um aus der Immigrationsgesellschaft eine pluralistische Demokratie zu machen. Staatsbürgerschaft ist nicht nur ein passiver Status, sondern auch eine aktive Haltung – das hat hier nur bedingt funktioniert.
Gilt das für die ganze Bundesrepublik?
Benhabib: Deutschland ist föderalistisch. Es sollte nicht vergessen werden, dass es große Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern gibt. So ist etwa das Kopftuchtragen in öffentlichen Einrichtungen unterschiedlich geregelt. Dennoch verläuft die Debatte über die Staatsbürgerschaft und über muslimische Menschen in Deutschland insgesamt nicht ganz offen. Insbesondere gegenüber gläubigen Muslimas gibt es starke Vorurteile. Die Mehrheit sieht verschleierte Frauen als rückschrittliche, unterdrückte Menschen an, die des Mitleids bedürfen.
In manchen europäischen Ländern, in Frankreich zur Zeit der Aufstände in den Banlieues, gab es Tendenzen, einen Widerspruch zwischen "Moslemsein" und "Europäersein" zu sehen. Ist das "Integrationsproblem", von dem so oft gesprochen wird, aber nicht eher eine Frage der sozialen als der kulturellen Integration?
Benhabib: Wir sprechen hier, da die Rede von Obama in Kairo nicht allzu lange zurückliegt. Dort hat er ausdrücklich betont, dass es weder heute noch je zuvor ein Widerspruch war, Moslem und gleichzeitig amerikanischer Staatsbürger zu sein. Genauso wie es auch keinen Widerspruch darstellt, amerikanischer Staatsbürger und gleichzeitig Buddhist oder Konfuzianer zu sein. In Europa ist das nicht der Fall. Die europäischen Staaten sind stark von der homogenisierenden Ideologie des Nationalstaates geprägt. Außerdem ist das kollektive Gedächtnis vom alten Konkurrenzkampf zwischen Europa und dem Osmanischen Reich beeinflusst. Daneben gibt es überhaupt keinen Zweifel daran, dass die ganze Diskussion über "den Islam" Integrationsprobleme und sozioökonomische Probleme fehlender sozialer Mobilität von muslimischen Jugendlichen verschleiert: Wir haben hier ein Klassenproblem, von dem kaum gesprochen wird.
Warum fällt der ehrliche und grundsätzliche Diskurs über den Multikulturalismus in Deutschland so schwer?
Benhabib: Das Problem ist mehrdimensional. Auf der einen Seite sind es muslimische Verbände und Vereine, die sich nicht zur Genüge mit tiefem und aufklärerischem Impuls an der Diskussion beteiligen. Auf der anderen Seite ist der Staat, der für Verzerrungen in der Debatte sorgen kann. Im Falle Deutschlands etwa wegen des Instituts der Kirchensteuer.
Wenn der deutsche Staat Gleichberechtigung und Neutralität gegenüber allen Religionen gewährleisten möchte, kann er unmöglich den organisierten Islam nicht als Gemeinde anerkennen. Immer wieder wird gesagt: Es gibt so viele Gruppierungen, so viele Organisationen, die sich widersprechen. Diese Situation ist wenig hilfreich und verschafft kaum Aufklärung. Vom Standpunkt der Gleichberechtigung muss der Islam als Gemeinde anerkannt werden. In welcher Form und mit welchen Konsequenzen, darüber kann gesprochen werden, aber erst einmal gilt es, diese transparent-öffentliche Form von Ungleichbehandlung abzuschaffen. Sie blockiert die Debatte.
Inwiefern folgt Deutschland einer kosmopolitischen Idee, die für Ihre Arbeit ja sehr wichtig ist? In ihrem Buch "Die Rechte der Anderen" beziehen Sie sich auf das Weltbürgerrecht von Kant.
Benhabib: Der Kern der kosmopolitischen Debatte heute bezieht sich auf demokratische Beteiligung. Kants Unterscheidung zwischen dem Gastrecht und dem Besuchsrecht ist nicht mehr vertretbar. Der Gast ist potentiell immer ein Mitbürger. Es muss Institutionen in einer Gesellschaft geben, die es dem "Fremden", dem "Anderen" ermöglichen, Mitglied zu werden. Dabei geht es nicht um eine Welt ohne Grenzen und auch nicht darum, dass es überhaupt keine Bestimmungen geben darf. Solche Bestimmungen müssen aber so menschenrechtskonform und demokratiefreundlich wie möglich formuliert sein.
Zum Beispiel?
Benhabib: Die Ausbeutung des Sprachkenntnisgrundsatzes. Es wurden so schwierige Aufgaben zur Prüfung der Deutschkenntnisse im Einbürgerungsprozess formuliert, dass sie selbst von einem Großteil der deutschen Bevölkerung nicht beantwortet werden könnten. Das ist nur ein Beispiel für Verzerrungen der Demokratie.
Was geschieht sonst noch mit den "Rechten der Anderen" in Deutschland?
Benhabib: Wir sehen im Zeitalter der Globalisierung, dass sich verschiedene Formen von politischer Einbürgerung und Mitgliedschaft herausbilden. Die nationale Staatsbürgerschaft mag die Spitze einer Hierarchie sein, aber es existieren auch andere Formen; es gibt Menschen, die ein ganzes Leben als Ausländer mit Aufenthaltsrecht in diesem Land verbringen. Innerhalb der EU wurde der Status von Drittstaat-Angehörigen zunächst von Land zu Land unterschiedlich bestimmt, ehe es Ende der neunziger Jahre zu einer "Harmonisierung" kam. Menschenrechte gelten für alle Menschen, nicht nur für Staatsbürger. Darüber hinaus kam es zu einer Vereinheitlichung von sozialen und zivilen Rechten, wie dem auf Freizügigkeit innerhalb der EU. Allerdings gibt es ein Feld, auf dem keine Harmonisierung stattfindet: das kommunale Wahlrecht. Es gibt Länder in der EU, wie die Niederlande, Irland oder Schweden, die Nicht-Staatsangehörigen das kommunale Wahlrecht einräumen. Frankreich und Deutschland gehören nicht dazu.
Weshalb ist das kommunale Wahlrecht von so großer Bedeutung?
Benhabib: Schauen Sie sich Deutschland an: Sollte der Türkei-Beitritt in die EU scheitern, haben allein in Berlin über eine Million Menschen dauerhaft keine demokratische Stimme; in Deutschland sind es bis zu zweieinhalb Millionen Menschen. Das ist demokratietheoretisch unvertretbar. Demokratie heißt, dass wir ständig versuchen müssen, die Kluft zwischen denen, die regieren, und denen, in deren Namen regiert wird, zu überbrücken - was wiederum Rückwirkungen auf den Integrationsprozess haben würde. Politische Integration ist ein Aufklärungsprozess. Ist die Partizipation von Ausländern an Kommunalwahlen erst einmal durchgesetzt, werden wir mehr Zugang zu gewissen Debatten haben, die in den Communities womöglich hinter geschlossenen Türen geführt werden und von denen wir nichts wissen. In der Öffentlichkeit nehmen diese Debatten einen anderen Verlauf. Das ist ein wichtiger Punkt: bestimmte Gesichtspunkte und Ideologien könnten ihre Anziehungskraft verlieren. Ideen müssen sich einer liberalen, demokratischen Öffentlichkeit anbieten können. Dadurch wird das, was vertretbar ist, von dem, was nicht vertretbar ist, getrennt. Diese Fragen, und nicht immer nur die theologischen, gilt es zu diskutieren.
Was ist mit deutschen Staatsbürgern, die aber trotzdem als "die Anderen" gesehen und besprochen werden?
Benhabib: Da sprechen wir über schwierige gesellschaftliche Abläufe, die in Institutionen und im Kulturbereich durchlebt werden müssen. Zunächst bin ich da altmodisch sozialdemokratisch: Ich glaube unbedingt an die integrative Kraft von Bildung. Nach 30 Jahren sehe ich junge Menschen, die einen gewissen Stand erreichen, die Bindestrichnamen haben oder Bindestrichidentitäten. Das ist gut so, aber es geht nicht weit und nicht schnell genug. Das deutsche Bildungssystem ist wahnsinnig hierarchisch. Die Menschen werden früh voneinander getrennt und nach Leistungen kategorisiert. Es erlaubt nicht in dem Maße soziale Aufstiegsmöglichkeiten, wie das für eine Immigrationsgesellschaft notwendig wäre. Gleichzeitig ist in Deutschland die Trennung von citizenship im Sinne von aktiver Bürgerbeteiligung schwer von Nationalität zu trennen. Auch da muss ein Demokratisierungsprozess ansetzen; dass diese Bindestrichidentität von citizenship in einer modernen Gesellschaft anerkannt wird.
Anerkennung ja, Zuschreibung nein?
Benhabib: Mich hat unheimlich amüsiert und manchmal fast beleidigt, dass ich statt als Philosophin oder Professorin aus Yale in Deutschland immer als türkische Jüdin eingeführt wurde. Das erste Mal in meinem Berufsleben erwähnt wurde meine ethnische Zugehörigkeit und Identität – die ich nicht verheimliche – in Deutschland. Wenn meine ethnische Zugehörigkeit wichtig für meine Philosophie wäre, machte es Sinn, sie zu erwähnen. Aber so ist das nur merkwürdig. Journalisten und andere Menschen in der deutschen Öffentlichkeit sollten aufpassen, wie sie diese Begriffe benutzen und warum sie immer wieder solches Labelling machen. Ich kann darüber nur staunen.
Interview: Deniz Utlu
© Der Freitag 2009
Şeyla Benhabib, geboren 1950 in Istanbul, ist Professorin für Philosophie und Politische Theorie an der Universität von Yale. In deutscher Sprache erschien von ihr zuletzt: "Die Rechte der Anderen. Ausländer, Migranten, Bürger" im Suhrkamp- Verlag. In diesem Jahr wurde sie mit dem Ernst-Bloch-Preis ausgezeichnet.