Am gesellschaftlichen Rand
Die erste Einwanderungswelle, die auf Initiative eines Arbeitsabkommens mit südeuropäischen Ländern in den 50er Jahren zustande kam, verursachte weder für das Aufnahmeland Deutschland noch für die Arbeitsmigranten soziale und politische Schwierigkeiten von größerem Ausmaß. Migration werde nur ein vorübergehender Zustand sein, so die beiderseitige Annahme.
Längerfristige Arbeitsverträge wurden aufgrund der erwarteten, konjunkturell bedingten und daher temporären Bedarfslage weitestgehend vermieden. Auch die damalige Politik sah unter den gegebenen Umständen keine Veranlassung, soziale und politische Maßnahmen für eine weitergehende Integration von Migranten zu treffen, da diese in Deutschland nicht sesshaft werden, sondern wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren sollten.
Die wirtschaftlichen Turbulenzen, die durch die Ölkrise der 70er Jahre hervorgerufen wurden, veranlasste die deutsche Bundesregierung 1973 einen Anwerbestopp für Arbeitsmigranten zu beschließen.
Diese Verfügung bewirkte Gegenteiliges: Die Zahl von Einwanderern stieg beträchtlich, dadurch dass Arbeitsmigranten ihre Familien aus den Herkunftsländern nachholten. Durch diese Familienzusammenführungen kamen vermehrt Frauen und Kinder nach Deutschland.
Fehlende Weichenstellung bei der Integration
Hierbei entstanden schulische und berufliche Schwierigkeiten von Migrantenkindern und Jugendlichen. Eine einheitlich auf diese Probleme abgestimmte Integrationspolitik fehlte zu diesem Zeitpunkt gänzlich. Integrationsmaßnahmen erfolgten meistens in Form von kurzfristig angelegten sozialen Projekten, deren Finanzierung vom jeweiligen politischen Klima abhängig waren.
Diese nicht nachhaltige Integrationspolitik der 70er, 80er und 90er Jahre – und die damit verbundenen fehlenden Weichenstellungen – wirken sich bis heute auf die schlechte Stellung von Migrantenkindern und -jugendlichen im deutschen Bildungssystem aus.
Obwohl Heinz Kühn, der erste deutsche Ausländerbeauftragte, in seinem Memorandum bereits 1978 auf die schlechte schulische und berufliche Situation junger Migranten hinwies und gezielte Maßnahmen vorschlug, fanden seine Forderungen kein politisches Echo.
Stattdessen wurde von den 80ern bis in die 90er Jahre keine Integrationspolitik verfolgt, sondern vielmehr eine Politik, die auf Rückkehr ausgerichtet war. Tatsachlich ging in dieser Zeit ein Teil der Arbeitsmigranten in ihre Herkunftsländer zurück. Doch die Probleme von Arbeitsmigranten in Deutschland blieben bestehen. Nicht die Politik, sondern die Pädagogik begann sich infolgedessen mit diesen Problemen zu befassen.
"Interkulturelle Pädagogik"
Auf diese Weise entstand Ausländerpädagogik, später auch "Interkulturelle Pädagogik" genannt, die seit ihrer Entstehung Erklärungen für die Probleme von Einwanderern der zweiten Generation vor dem Hintergrund ihrer familiären und kulturellen Herkunft sucht. Dieser Pädagogik zufolge wurden viele Migrantenkinder den Anforderungen der Schule und der deutschen Gesellschaft insgesamt nicht gerecht, da sie im Spannungsfeld zweier Kulturen aufwuchsen.
Diese "defizitorientierte Kulturkonfliktthese" beherrschte in den 70er und 80er Jahren die sozialwissenschaftlichen Diskurse. Migrantenkinder wurden als "krisenhaft" und "belastet" beschrieben, als "hin und her Gerissen zwischen den Kulturen", ohne dass hierbei ihre politische, soziale und rechtliche Situation in Betracht gezogen wurde.
Im Gegensatz zu diesen Zuschreibungen veränderte sich die zweite Generation von Migranten im Vergleich zu ihren Eltern beträchtlich. Studien belegen, dass sich ein großer Teil der Jugendlichen bis heute wie selbstverständlich sowohl zur Aufnahmekultur als auch zur Herkunftskultur zugehörig fühlt.
Bikulturalität bzw. Mehrkulturalität als Erfahrung von Relativität zwischen zwei bzw. mehreren kulturellen Kontexten und der natürliche Umgang in diesen erwies sich als besondere Fähigkeit dieser Gruppe. Der neuesten "Sinus"-Studie zufolge hat ein Teil der zweiten bzw. dritten Generation sogar das Potenzial sich zu "Leitgruppen in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts" zu entwickeln.
Fehlende Akzeptanz und Anerkennung
Bei Migranten sei zudem eine höhere Leistungs- und Einsatzbereitschaft zu beobachten als innerhalb der deutschen Bevölkerung. Auch der UN-Bericht von 2005 konstatiert, dass Migranten "risikobereit", "belastbar" und "kreativ" seien.
Diesem Potenzial wird im deutschen Bildungssystem jedoch kaum Rechnung getragen. Seit dem Beginn der Arbeitsmigration werden Migrantenkinder im deutschen Bildungssystem benachteiligt und ausgegrenzt. Erst durch die Ergebnisse der PISA-Studie aus dem Jahr 2000, also mit 40-jähriger Verspätung, drang diese Erkenntnis in die politische Debatte ein.
Alarmierend dabei ist, dass Migrantenkinder, wie eine Folgestudie der OECD 2006 belegt, in keinem anderen Industrieland so schlechte Bildungschancen haben wie in Deutschland. Diese Ausgrenzung von Einwanderern in Deutschland offenbart im Umkehrschluss, dass sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft nach wie vor mit kultureller und religiöser Differenz schwer tut.
Will man ein Fazit über die 40-jährige Migrationsgeschichte in Deutschland ziehen, lässt sich feststellen, dass sich die erste Generation, die sich heute im Rentenalter befindet, kaum mit der neuen Heimat identifizieren konnte. Viele von ihnen verbringen ihren Lebensabend in Deutschland und nehmen in Folge langjähriger Akkord- und Schichtarbeit einen erhöhten Pflege- und Betreuungsbedarf schon vor Beginn des eigentlichen Rentenalters in Anspruch.
Demgegenüber fühlen sich Einwanderer der zweiten und dritten Generation in Deutschland heimisch und verstehen sich als ein Teil der hiesigen Gesellschaft. Dennoch hat sich ihre schlechte soziale Stellung aufgrund von kulturellen und religiösen Zuschreibungen kaum verändert. Migranten aller Generationen beklagen sich darüber, dass die deutsche
Mehrheitsgesellschaft nach wie vor eine nur geringe Integrationsbereitschaft zeige.
Ülger Polat
© Qantara.de 2008
Dr. Ülger Polat ist Migrationsforscherin und Lehrbeauftragte für Interkulturelle Soziale Arbeit an der Fachhochschule Hamburg.
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