Reformvorhaben als Gratwanderung
Erdogans Regierung will den zwölf Millionen Kurden mehr Sprachfreiheit und andere demokratische Rechte gewähren, um den seit 25 Jahren anhaltenden Kurdenkonflikt zu beenden. Doch nationalistische Kreise laufen bereits jetzt Sturm gegen die Pläne. Von Ömer Erzeren
Noch vor 17 Jahren wurde die Abgeordnete Leyla Zana vom Rednerpult gezerrt, weil sie den Eid auf die Verfassung auf Kurdisch abgelegt hatte. Die parlamentarische Immunität von Zana und ihrer Mitstreiter wurde aufgehoben und gewählte Parlamentarier verbrachten ein Jahrzehnt im Gefängnis.
Es war eine Zeit , in der der Staat selbst die Existenz der kurdischen Sprache leugnete, die Assimilierung der Kurden verfolgte und Gesetze zur Terrorismusbekämpfung verabschiedet wurden, ohne die Ursachen des blutigen Konfliktes zu benennen. Im Verlauf der jahrzehntelangen kriegerischen Auseinandersetzungen wurden bislang 40.000 Menschen getötet – türkische Soldaten, PKK-Kämpfer und vor allem kurdische Zivilisten.
Zeichen der Aussöhnung
Das Klima hat sich gewandelt, wie die Sitzungen des Parlamentes in diesen Novembertagen deutlich zeigen. So zog etwa der Vorsitzende der kurdischen "Partei der demokratischen Gesellschaft", Ahmet Türk, Bilanz über die Leiden der Kurden der Türkei, über staatliche Diskriminierung, über Repression und die blutige Vergangenheit.
Die kurdische Guerillaorganisation PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) sei die Folge einer verfehlten staatlichen Politik, die den Kurden ihre Rechte verweigere, so Türk: "In drei Monaten könnten die Waffen schweigen!"
Es war bemerkenswert ruhig als Türk, der einst vom "Völkermord am kurdischen Volk" nach dem Militärputsch 1980 gesprochen hatte, seine Rede hielt. Die Abgeordneten hörten ihm zu.
Zum Eklat kam es erst, als der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan zum Entwurf der Regierung, der den Kurden weiterreichende demokratische Rechte einräumt, Stellung bezog.
Paradigmenwechsel in der türkischen Politik
Erdogans Rede war ein Appell das Blutvergießen zu beenden und ein Plädoyer für Aussöhnung. Der Ministerpräsident verglich gar die Sorgen einer Soldatenmutter mit denen einer Mutter, deren Sohn bei den Guerilleros ist.
Ein solcher Vergleich demonstriert den Paradigmenwechsel in der türkischen Politik. Als der Ministerpräsident diejenigen kritisierte, die "versuchten, auf den Leichen gefallener Soldaten Politik zu betreiben", verließen die Abgeordneten der "Republikanischen Volkspartei" den Plenarsaal.
Zuvor hatte Oppositionsführer Deniz Baykal dem Ministerpräsidenten "Kollaboration mit den Terroristen der PKK" vorgeworfen. Von "Vaterlandsverrat“ spricht auch die "Nationalistische Aktionspartei".
Stärkung demokratischer Grundrechte
Dabei begnügt sich das konkrete Maßnahmenpaket zur Demokratisierung, das die Regierung vorgelegt hat, mit spärlichen Reformen, die die demokratischen Rechte der Bürger stärken sollen:
Ein unabhängiges Kontrollgremium soll geschaffen werden, das die Verletzung von Menschenrechten und Foltervorwürfen prüft, sowie eine Kommission zur Bekämpfung von Diskriminierung. Politiker sollen künftig auch auf Kurdisch Reden halten können ohne der Strafverfolgung ausgesetzt zu sein.
In den Moscheen darf künftig auch auf Kurdisch gepredigt werden. Ebenso sollen ganztägig Radio- und Fernsehsendungen privater Sender erlaubt sein. Jahrhundertealte kurdische Ortsnamen, die im Zuge des Assimilierungsprozesses türkisiert wurden, können den ursprünglichen Namen wieder annehmen.
Das Maßnahmenpaket ist keineswegs so bahnbrechend wie es auf ersten Blick scheint. Wichtige Fragen, wie etwa das Recht auf muttersprachlichen Unterricht in staatlichen Schulen, wurden ausgespart.
So sprach auch Innenminister Besir Atalay von einem "dynamischen Prozess". Langfristig sei eine demokratische und zivile Verfassung vonnöten, die dem "Pluralismus und Freiheitsrechten Rechnung trägt". Trotz einzelner Veränderungen ist immer noch die Verfassung von 1982 in Kraft, die die Militärs nach dem Putsch 1980 oktroyierten.
Allein der Umstand, dass erstmalig eine Regierung das Problem benennt und eine parlamentarische Debatte ermöglicht wird, verdeutlicht die Brisanz. "Wir möchten nicht, dass Mütter wegen ihrer toten Söhne weinen" – so eine immer wiederkehrende Redewendung von Ministerpräsidenten Erdogan.
Sehnsucht nach Frieden
Der oppositionelle Abgeordnete Onur Öymen nahm Bezug auf den Aufstand von Dersim 1937/1938 und rechtfertigte die militärische Niederschlagung. Auch damals hätten Mütter geweint.
Die Niederschlagung des Dersim-Aufstandes, die Bombardierung von Dörfern und die Zwangsdeportation zehntausender alevitischer Zaza gehört zu den blutigsten Ereignissen in der Geschichte der modernen Türkei. Doch das Konzept der militärischen Härte entspricht nicht der Erwartungshaltung einer Gesellschaft, die zehntausende Tote zu beklagen hat und sich nach gesellschaftlichem Frieden sehnt.
Erdogan und seine Minister wollen in den kommenden Wochen landesweit in öffentlichen Reden für ihr Programm der "demokratischen Öffnung" werben. Mit Parolen wie "Vaterlandsverat" oder "Kollaboration mit Terroristen" wird die Opposition gegen die Pläne der Regierung zu Felde ziehen. Eine Polarisierung könnte bevorstehen.
Sturm der Entrüstung
Es ist vor allem die PKK, die der Opposition den Nährboden für ihre Propaganda liefert. Auf Geheiß des auf der Gefängnisinsel Imrali einsitzenden PKK-Führers Abdullah Öcalan waren im Oktober acht PKK-Guerilleros über den Grenzübergang Habur als "Friedensbotschafter" in die Türkei eingereist. Sie bekundeten, dass sie ihre Waffen abgelegt hatten.
Der türkische Staat hatte Staatsanwälte und Untersuchungsrichter an den Grenzübergang beordert, die dort die Vernehmungen durchführten. Nach mehreren Stunden der Befragung wurden die Männer und Frauen schließlich auf freien Fuß gesetzt.
Daraufhin feierten zehntausende Kurden mit Sprechchören, PKK-Fahnen und Bildern des inhaftierten Abdullah Öcalan die Ankunft der PKK-Guerilleros. Die Fernsehbilder vom Grenzübergang lösten im Westen der Türkei einen Sturm der Entrüstung aus. Nationalistische Kreise mobilisierten Mütter gefallener Soldaten. Die Regierung zog sich in Defensive zurück und beteuerte, dass sie nie mit Terroristen verhandeln werde.
Die PKK als größte Herausforderung
Tatsächlich ist die Existenz einer bewaffneten Guerillaorganisation, die tausende Kämpfer in den Bergen beherbergt, das größte zu bewältigende Problem.
Vielen Kurden geht es nicht nur um demokratische Rechte. Es geht um die Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Abdullah Öcalan und die Kämpfer der PKK sind in den Augen von Millionen Kurden Nationalhelden.
Doch keine türkische Regierung kann es sich leisten, öffentlich in einen Dialog mit der PKK zu treten – auch wenn zuweilen der Eindruck entsteht, dass zumindest über den Geheimdienst Kontakte gepflegt werden.
Doch langfristig kann es nur zu einer Lösung kommen, wenn die PKK die Waffen niederlegt und in den legalen, institutionellen Rahmen des politischen Systems eingebunden wird.
Die Lösung der kurdischen Frage steht nicht nur auf der politischen Agenda der Regierungspartei. Die Staatsräson, die außenpolitischen Interessen des türkischen Staates gebieten eine friedliche Beilegung des Konfliktes.
Außenpolitische Wende
Mit Syrien stand die Türkei vor einem Jahrzehnt am Abgrund eines Krieges, weil Syrien den PKK-Chef Öcalan beherbergte. Seit einigen Wochen kann man visafrei zwischen Syrien und der Türkei reisen.
Die Staaten wollen Minenfelder räumen, um im Grenzgebiet ökologischen Landbau zu betreiben. Die Autonome Region Kurdistan im Norden des Irak genießt relative Unabhängigkeit von der Zentralregierung in Bagdad und verfügt über Öl- und Gasressourcen.
Über Jahrzehnte war Irakisch-Kurdistan ein Gebiet, wo die türkische Armee Militäroperationen durchführte und PKK-Lager aus der Luft bombardierte. Die Türkei unterstützte stets Bagdad gegen die Kurden.
Heute existieren zwischen beiden Partnern hervorragende Wirtschaftsbeziehungen: Die Türkei ist mittlerweile größter Investor in Irakisch-Kurdistan und stellt den Energiekorridor von Öl und Gas zu den Raffinerien und dem Hafen Ceyhan am Mittelmeer.
Die Türkei und die Autonome Region Kurdistan sind zu zwei Akteuren mit gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen geworden. Zweifelsohne ist eine bewaffnete Guerilla in den Bergen dabei höchst störend.
Die "kurdische Öffnung" ist das wichtigste und gleichsam gefährlichste politische Projekt der konservativen Regierung Erdogan. Gelingt es, den gesellschaftlichen Frieden herzustellen und die Waffen zum Schweigen zu bringen, wird Erdogan gestärkt hervorgehen.
Misslingt es, könnte es ihn Kopf und Kragen kosten. Die kurdische Frage in der Türkei ist zwar mit der aktuellen "demokratischen Öffnung" nicht gelöst, aber an einem Punkt angekommen, wo sich das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen lässt und ein Weg zu einer Lösung geebnet ist.
Ömer Erzeren
© Qantara.de 2009
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