Trügerische Stille

Bis zuletzt leisteten die Bewohner Bani Walids erbitterten Widerstand gegen Libyens Revolutionäre. Zwar ist es in der einstigen Hochburg der Gaddafi-Getreuen inzwischen ruhig geworden. Doch ist fraglich, ob der brüchige Friede hält. Eindrücke von Alfred Hackensberger aus einer Stadt zwischen Rebellion und Anpassung.

Libyen hat eine Zentralregierung, aber das Land ist aufgeteilt in Stadtstaaten mit eigenen Wahl- und Rechtssystemen, eigenen Verwaltungen und starken Rebellen-Milizen, auf denen ihre Macht basiert. Zum ersten Mal hat sich nun auch eine ehemalige Gaddafi-Bastion ihre Unabhängigkeit erstritten. In Bani Walid regelt man das öffentliche Leben so, wie man das für richtig hält. Offiziell von der Regierung noch nicht abgesegnet, aber das macht in Libyen bekanntlich nichts.

Bani Walid liegt 170 Kilometer südöstlich von Tripolis auf einem Hochplateau in der Wüste. Eine Stadt mit rund 100.000 Einwohnern, großflächig über die Bergregion verteilt. Was hier sofort, im Gegensatz zu anderen libyschen Städten, auffällt: In Bani Walid sind keine Waffen und Militärfahrzeuge auf den Straßen zu sehen. Es existieren keine Checkpoints, an denen Milizionäre nach Lust und Laune Autos und Papiere kontrollieren. Man hat in Bani Walid das seltsame Gefühl, dass dort so etwas wie Ordnung und Sicherheit herrscht.

Allgegenwärtige Unsicherheit

Rückeroberung Bani Walids durch Anhänger Gaddafis; Foto: dpa
Nervenkrieg um Bani Walid: Nach heftigen Kämpfen hatten Anhänger Gaddafis Ende Januar 2012 die rund 140 Kilometer südöstlich von Tripolis gelegene Provinzstadt zeitweise wieder unter ihre Kontrolle gebracht.

​​Im Rest von Libyen ist das noch ein ferner Traum. Nachts kann es aufgrund herumstreunender Banden gefährlich sein. Es sind Banden, die Checkpoints errichten und Passierenden Hab und Gut wegnehmen.

In Tripolis wird bisweilen sogar von Balkonen auf Fußgänger geschossen. Zum Selbstschutz nimmt man die Kalaschnikows lieber mit ins Café, ins Restaurant oder ins Auto. Und noch immer verschwinden Menschen von einem Tag auf den anderen. Sie werden in Gefangenschaft geschlagen und gefoltert, wie jüngst auch wieder in einem Bericht der internationalen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zu lesen war.

Das Verbot von Waffen und Milizen in Bani Walid wurde im Sitzungssaal des "Tahar Clubs" getroffen. Dort trifft sich regelmäßig der Rat der Ältesten, der die Interessen der Einwohner der Stadt vertritt. Die Ratsmitglieder sind 32 Vertreter von Familien und Clans der Warhalla, der mit knapp einer Million Mitgliedern der größte Stamm Libyens ist und sich wie ein Flickenteppich unter den anderen 140 Stämmen über das ganze Land verteilt. Nur in Bani Walid ist der Warhalla-Stamm dominant. "Unsere Stadt ist die Mutter aller Warhalla", erklärt ein junger Mann mit einem breiten Lächeln. "Hier hat alles begonnen."

Der Ältestenrat übertrug die Verantwortung für die Sicherheit der Stadt der lokalen Polizei und der Libyschen Armee. Eine Entscheidung, deren Umsetzung man sich für ganz Libyen wünschen würde. Denn damit könnte man die willkürliche Macht der vielen bewaffneten Milizen im Land beenden.

Der Nationale Übergangsrat (NTC) hat bisher allerdings keine entsprechenden Leitlinien erlassen, noch wirklich versucht, die Macht der Milizen zu beschneiden – trotz der teilweise systematischen und groben Menschenrechtsverletzungen der Milizen. Das alte Regime ist zwar gestürzt, aber eine funktionierende Zentralregierung und einen Staat mit einer verlässlichen Justiz, einer nationalen Polizei oder Armee kann es auf dieser Basis nicht geben. Die Entwicklung des Landes ist noch völlig offen und ungewiss.

Das verhasste "Zentrum der Loyalisten"

Rebell nach der Eroberung Bani Walids; Foto: dapd
Später Sieg der Rebellen: Als Revolutionseinheiten Ende August die Hauptstadt Tripolis eingenommen hatten, leisteten die Anhänger Gaddafis in Bani Walid noch weitere zwei Monate erbitterten Widerstand.

​​Der Ältestenrat aus Bani Walid wurde bisher vom NTC nicht als offizielle Vertretung der Stadt anerkannt. Der Ort gilt als "Gaddafi-Stadt", als Zentrum der Loyalisten des alten, verhassten Systems. Genau wie in Sirte, der Heimtatstadt des Diktators, wurde auch in Bani Walid bis zum bitteren Ende gekämpft.

Doch der Widerstand in der Stadt musste letztlich gebrochen werden, so der Wille der Rebellen. Erst am 17. Oktober fiel sie in die Hände der revolutionären Kräfte. An diesem Tag flüchtete auch Seif al-Islam. Der Gaddafi-Sohn, der das politische Erbe seines Vaters hätte antreten sollen, hatte sich in Bani Walid einen Monat lang versteckt.

"Ja er war hier bei uns", sagt Omar Algasey, ein 36-jähriger Angestellter auf einer Aussichtsterrasse, von der man einen wunderbaren Panoramablick über das Tal von Bani Walid und die Berge hat. Auf dem Boden liegen noch überall leere Patronenhülsen verstreut. Das Dach des Stadthotels im Hintergrund ist unter einer NATO-Bombe kollabiert.

"Schwere Gefechte", meint Algasey, um sofort hinzuzufügen: "Al-Islam war kein Soldat. Er konnte nur gut reden. Wenn es ums Kämpfen ging, hatte man ihn nicht ernst genommen." Aufgenommen habe man ihn nur, weil es die Tradition so verlangte, erklärt wenig später der Direktor des Polytechnikums. "Denn wer an dein Haus klopft und Schutz sucht, dem muss man helfen", so Mohammed Rassim.

Ganz selbstlos den traditionellen Gepflogenheiten Folge geleistet und dabei den Zorn der ganzen Nation in Kauf genommen? Wohl kaum. In Bani Walid sind die Graffitis, die die Revolutionäre hinterließen, alle übermalt worden.

Von der neuen libyschen Flagge, sind gerade einmal vier oder fünf im ganzen Stadtgebiet zu sehen. "Wir im Polytechnikum habe auch eine", sagt Rassim und grinst.

Zerstörter Uni-Campus in Bani Walid; Foto: DW
Trümmerfeld Bani Walid: Die Wüstenstadt war während des monatelangen Volksaufstandes eine der letzten Bastionen der Gaddafi-Anhänger. Wenige Tage vor dem Tod des früheren Machthabers Mitte Oktober 2011 hatten Kämpfer des libyschen Übergangsrats die Stadt eingenommen und große Schäden angerichtet.

​​Es ist eher ein kleiner Wimpel, denn eine Flagge, die auf einem der Schulgebäude gehisst wurde. "Ist sie nicht wunderbar diese Flagge, die Flagge der neuen Freiheit", sagt der Direktor und deutet mit dem Finger darauf. Dabei steht ihm eine nicht zu überbietende, beißende Ironie ins Gesicht geschrieben.

"Politik der verbrannten Erde"

Gaddafis Geburtstadt Sirte sowie der Ort Tawergha, von dem aus die libysche Armee ihre Angriffe auf die belagerte Stadt Misrata lancierte, wurden von den Rebellen zerbombt, verbrannt und gnadenlos geplündert. Dies geschah in der Absicht, dass die Bevölkerung nicht mehr zurückkommen sollte.

Ein Schicksal, das Bani Walid erspart blieb. Aber einen Vorgeschmack dieser "Politik der verbrannten Erde" bekamen die Einwohner Bani Walids bereits zu spüren: Im Zuge der Besetzung wurden Geschäften ausgeräumt, 4.000 Autos gestohlen, 300 Häuser geplündert und angefackelt, wobei man vorher Fußböden aufriss und Gärten umgrub, in denen man Geld- und Schmuckverstecke vermutete.

Die Rebellen waren in Bani Walid nicht von Haus zu Haus gezogen. Die zerstörten und geplünderten Gebäude scheinen gezielt ausgewählt worden zu sein. In Wohnvierteln sind es immer nur ein oder zwei große Anwesen oder Villen, die wohlhabenden Besitzern gehörten. Man hat offensichtlich eine Liste abgearbeitet, auf der mutmaßliche Führungsleute und Nutznießer des Gaddafi-Regimes standen.

"Warum nur mein Haus?", klagt Saadi Weinis fast den Tränen nahe. Die Flammen ließen das Dach einstürzen und die Mauern stehen schief in ihren Fundamenten. "Warum nur?", wiederholt der 67-jährige Mann mehrfach. "Mein Sohn war unter Gaddafi neun Jahre lang im Gefängnis!"

Die Geschichte Bani Walids zeigt die Tragik vom Leben unter einer Diktatur: Rebellion oder Anpassung? Angehörige des Warfalla-Stamms haben beides gemacht. 1993 waren Offiziere der Stadt treibende Kraft hinter einem Putsch gegen Gaddafi, der jedoch scheiterte. Acht Militärs wurden vier Jahre später dafür hingerichtet.

Anhänger der Rebellen zerschlägt Bild Gaddafis; Foto: picture-alliance
Abrechnung mit der verhasssten Despotie: Die zerstörten und geplünderten Gebäude scheinen gezielt ausgewählt worden zu sein. In Wohnvierteln waren es immer nur ein oder zwei große Anwesen oder Villen, die wohlhabenden Besitzern gehörten, schreibt Hackensberger.

​​Andere, wie der Sohn Weinis kamen Jahre hinter Gitter. Nach dem Coupversuch arrangierten sich die Warfalla jedoch mit dem Regime und bekamen für ihre Loyalität führende Posten in der Armee und innerhalb der Sicherheitsdienste. Und schließlich liefen die Geschäfte der städtischen Unternehmer dank der Aufträge des Staats hervorragend. Die Warfalla bekamen also, was man ihnen vor 1993 noch verwehrt hatte.

Dafür nahmen die Rebellen nun Rache. Nach der Eroberung wurde eine Miliz mit dem Namen "28. Mai Brigade" als Sicherheitsdienst stationiert. Ihre Mitglieder kamen aus Benghasi, Derna und Tripolis, aber auch aus Bani Walid selbst.

Einer der Einheimischen unter ihnen ist Tarek, so wie er sich nennen will. Er kämpfte mit der Brigade seit letztem Juni an verschiedenen Fronten in Libyen, hat sich aber mittlerweile von ihr distanziert. "Es gibt unter ihnen einige schlechte Leute", erzählt der stämmige, junge Mann. "Sie haben auf Gebäude geschossen, Geschäfte ausgeraubt und immer wieder neue vermeintliche Gaddafi-Loyalisten verhaftet." Man müsse eher von Kidnapping sprechen, fügt er hinzu, denn es habe keine Anweisungen von oben gegeben, geschweige denn einen Haftbefehl.

Ende letzten Januar eskalierte die Situation. Eine Familie verlangte von der "28. Mai Brigade" die Herausgabe ihres "gekidnappten" Sohns, der in der Zwischenzeit jedoch nach Misrata deportiert worden war. Die Familie, die Teil eines einflussreichen Unterklans der Warfalla ist, mobilisierte ihre Mitglieder. Mit 70 Mann wurde die Kaserne der Brigade angegriffen, die sich nach stundenlangem Gefecht aus der Stadt zurückziehen musste. Auf beiden Seiten starben vier Menschen, zwölf weitere wurden verletzt. Der mit zwei Autowracks verbarrikadierte Kaserneneingang zeugt noch von den Kämpfen.

"Ein totales Embargo"

"Es wurde keine einzige grüne Gaddafi-Flagge in Bani Walid gehisst, wie in den Medien berichtet wurde", beteuert der Ex-Milizionär Tarek. "Ich habe für die Revolution gekämpft und muss es doch wissen." Die Mehrheit der Einwohner stehe auf der Seite des neuen Libyens und wolle nur in Frieden leben. Nach dem Vorfall war Bani Walid eine Woche lang von der Außenwelt abgeschnitten: Telefon- und Internetverbindungen wurden gekappt, es gab keine Benzin- und Nahrungslieferungen, kein Bargeld mehr für die Banken.

"Ein totales Embargo", sagt Mahadi Siedie, der Vorsitzende des Ältestenrats. Er sitzt an der Stirnseite des großen Versammlungssaals im "Tahar Club". Reihum hocken die anderen Stammesältesten an eine Wand gelehnt auf Polstern am Boden.

Treffen des Ältestenrats im Tahar Club in Bani Walid; Foto: Alfred Hackensberger
Strenges Verbot von Waffen und Milizen in Bani Walid: Im Sitzungssaal des "Tahar Clubs" treffen sich regelmäßig die 32 Vertreter des Ältestenrates der Stadt, um u.a. über Fragen der Sicherheit in Bani Walid zu beraten.

​​Alle tragen die traditionelle "Scharda", ein weißer, aus Schafwolle gewebter Umhang. "Und plötzlich war alles wieder vorbei. Wie und warum, wissen wir nicht." Direkte Verhandlungen mit der Nationalen Übergangsregierung (NTC) gibt es nach wie vor nicht. "Wir sprechen nur mit Vertretern der Armee und der Polizei."

Ungeklärt ist noch das Schicksal der "gekidnappten Geiseln". In Bani Walid fordert man deren Entlassung, sofern es keinen offiziellen Haftbefehl gibt. Zwischen 70 und 80 Gefangene sollen alleine nach Misrata gebracht worden sein. "Einige von ihnen sind gefoltert worden", versichert der Ratsvorsitzende, der mit einer Delegation die Internierungslager besuchte. "Und nicht zu vergessen: Wir wollen unser gestohlenes Eigentum zurück", fügt er hinzu, wobei viele der anderen Ältesten zustimmend nicken. Doch ob die Forderungen angenommen werden, ist eher zweifelhaft. Denn wer sollte sie durchsetzen?

Der NTC scheint eine machtlose Institution zu sein, wenn es um Belange der Milizen geht. Die libysche Regierung kann den über 250 Brigaden in Misrata nichts anordnen. Höchstens vermag der Rat mit der lokalen Administration verhandeln und auf einen Kompromiss hoffen.

In einer ganz ähnlichen Situation wäre die Regierung, wenn die Städte Benghasi oder Sintan involviert wären. Sie wäre wohl mehr ein Bittsteller denn ein ebenbürtiger Partner. Von einer Institution, deren Entscheidungen bindend sind, ganz zu schweigen. Es sind keine hoffnungsvollen Perspektiven für ein Land, das eine Demokratie aufbauen will und im Grunde genommen vollkommen vom guten Willen bewaffneter Gruppen abhängig ist.

In Bani Walid, der Stadt der Gaddafi-Getreuen, herrscht nun erstmal Frieden. "Es sei denn, die Milizen kehren wieder zurück", meint Tarek, der ehemalige Rebellenkämpfer.

Alfred Hackensberger

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de