Rückkehr zur Gegenwart Gottes
Eine 1.000 Kilometer lange Fahrt über den Highway bringt den 35jährigen Todd Friedmann in seine spirituelle Gemeinschaft, mit der er einen der heiligsten Tage des Jahres begehen will: Es ist der Tag vor Rosh Hashanah, dem jüdischen Neujahr.
Doch Friedmann, der als Jude geboren und in der jüdischen Tradition erzogen wurde, fährt diese lange Strecke wegen des Eid ul-Fitr, der letzten Nacht des Ramadan. Vor über zehn Jahren wurde er Sufi–Muslim, und auf dieser 12-stündigen Fahrt wird seine tiefe Hingabe deutlich spürbar.
Er nennt sich heute Husayn und trägt in Anlehnung an die Sunna des Propheten Mohammed ein lose fallendes Baumwollgewand, jedoch könnte er mit seinem langen, rötlichen Bart und seiner ganzen Erscheinung nach ebenso gut ein orthodoxer Rabbiner sein.
Nach der eher verblüffenden Mischung religiöser Traditionen in seinem Werdegang befragt, zitiert Friedmann sofort den islamischen Mystiker und Philosophen Ibn 'Arabi, der bekanntlich gesagt hat: "Ich will die Religion der Liebe sehen."
"Ich wurde mit den Erzählungen von den Propheten Israels groß: Moses, Noah, Salomon und David. Wir studierten die Tora", sagt Friedmann, der eine hebräische Privatschule besuchte. "Diese Erzählungen von den Propheten brauchte ich aber nicht aufzugeben, als ich Muslim wurde. Der Prophet Mohammed ist für alle Menschen gekommen, für alle Völker und für alle Zeiten."
Suche nach spiritueller Erfüllung
Friedmanns Reise begann - wie für die meisten westlichen Konvertiten zum Sufi-Islam - mit der ernsthaften Suche nach spiritueller Erfüllung und der Frage nach Sinn in dieser westlichen Welt, die ihrer Meinung nach in immer stärkerem Maße materialistisch ausgerichtet und sinnentleert ist.
"Je älter ich wurde, desto deutlicher sah ich, dass in unserer Welt etwas völlig aus dem Ruder lief. Mein Großvater hatte den Holocaust überlebt und mir davon erzählt. Ich musste unbedingt verstehen, was das Leben eigentlich für einen Sinn hat. Und als ich das Naqshbandi Sufi-Zentrum in Montreal entdeckte, schrieb sich in meinem Herzen eine Gewissheit fest, die mir durch nichts genommen werden kann."
Friedmann ist auf dem Weg zum Hauptsitz des Naqshbandi-Haqqani Sufi-Ordens in Michigan. Dort werden innerhalb der nächsten Woche Dutzende strenggläubiger Sufis aus ganz Nordamerika eintreffen; etwa 30 Prozent sind zum Islam konvertierte Personen aus dem Westen unterschiedlichster Herkunft und religiöser Ausrichtung.
Die Anhänger des Sufi-Ordens sind Suchende, die spirituelle Erneuerung und das Transzendieren der Anfechtungen durch das Ego erstreben. Sie sind gekommen, um sich ganz der spirituellen Gegenwart von Sheikh Hisham Kabbani hingeben zu können. Kabbani ist ein weltweit verehrter Sufi-Lehrer und offizieller Stellvertreter von Sheikh Nazim Al-Haqqani, dem Oberhaupt des Ordens, der in weiten Kreisen als Heiliger angesehen wird. Man sagt, dass seine Wurzeln bis zu dem Mystiker und Dichter Jalluddin Rumi aus dem 13. Jahrhundert reichen.
Heutzutage ist Naqshbandi einer der größten spirituellen Orden des Sufi-Islam in der Welt und "die am weitesten verbreitete Sufi-Tradition in Indonesien, auf dem indischen Subkontinent, in Afrika und im Mittleren Osten", erläutert Lisa Alexandrin, Professorin für islamische Studien an der religionswissenschaftlichen Fakultät der Universität Manitoba.
"Die Naqshbandi-Lehre betont ausdrücklich, wie wichtig die enge Bindung von Meister und Schüler ist: zwischen dem Sufi-Sheikh und dem Lernenden", fährt Frau Alexandrin fort. Mit diesen Worten erklärt sie, warum der Sufi-Islam eine so starke Anziehungskraft auf westliche Anhänger ausübt, die immer wieder bestätigen, dass ihnen die Begegnung mit Sheikh Nazim und Sheikh Hisham das lebende Beispiel für die Lehren des Propheten bedeute.
Die Anhänger sehen den Sufi-Islam als eine Religion der Liebe, des Friedens, der Toleranz, der Demut und des Respekts und streben danach, diese Ideale durch die Begleitung und religiöse Unterweisung ihrer Sheikhs zu erreichen. Ein weiteres Merkmal des Sufi-Ordens ist der "universelle Gottesdienst", der unterschiedliche Glaubensrichtungen einschließt.
"Das Ziel von Spiritualität sind nicht Etiketten", sagt Friedmann. "Es ist die Rückkehr zur Gegenwart Gottes."
Jahrhunderte spiritueller Tradition
Im Jahre 1991 wurde Kabbani von Nazim beauftragt, Niederlassungen in Nordamerika zu gründen, und es sind seitdem 23 Zentren dort entstanden.
Das Michigan-Zentrum ist eine einfache Farm außerhalb der Stadt, etwas abseits einer Landstraße gelegen. Man kann sich kaum eine weniger geeignete Umgebung denken für die ekstatischen, farbenfrohen Gottesdienste, die hier stattfinden, wozu Gesänge gehören, Andacht, Meditation und Trance-ähnliches, hingebungsvolles und wirbelndes Tanzen.
"Ich bin immer wieder überrascht, dass die Lehren und Glaubenspraktiken, die einige wenige Sufi-Meister im 14. bis 15. Jahrhundert festgelegt haben, auch in der heutigen Welt eine so starke Wirkung haben können", meint Lisa Alexandrin. Der Naqshbandi-Orden besteht seit nunmehr 1.500 Jahren und reicht auf den Propheten Mohammed zurück, und zwar über den ersten Kalifen Abu Bakr, einen der engsten Gefährten des Propheten.
"Wir sind keine da’wa-[Bekehrungs-] Maschine oder Missionare", sagt Kabbani, Autor zahlreicher Schriften, sowie anerkannter Wissenschaftler der Geschichte des Islam und spiritueller Lehrer von geschätzten zwei Millionen Muslimen weltweit.
"Wir glauben, dass alle Menschen in ihrem Leben an einen Punkt gelangen, an dem sich die Gegenwart Gottes ihrem Herzen offenbart, und sie werden diese Botschaft hören und die Sehnsucht verspüren, sie zu verstehen. Und so beginnen sie dann, ihren spirituellen Bedürfnissen größere Aufmerksamkeit zu schenken. Aus diesem Grund sprechen wir nicht von 'Bekehrung' oder 'Rückkehr'. Wir sagen einfach, wenn der Ruf nach Spiritualität kommt, dann werden sie das Telefon abnehmen."
Der Orden betont zwar ausdrücklich die innere Spiritualität, hält sich jedoch an traditionelle islamische Werte, die auf dem Gesetz der Scharia gründen: Männer und Frauen sind beim Gebet getrennt und viele Frauen haben sich für das Tragen des Kopftuches entschlossen.
Anfeindungen von vielen Seiten
Friedmann hält an, um in einem Café einen Cappuccino zu trinken. Um das Café herum stehen Geschäfte der großen Warenhausketten wie Walmart und Target. Es ist die farbenfrohe Anomalität in der Masse des amerikanischen Mid-Westens.
An der Theke kommt ein Mann im Harley Davidson T-Shirt auf ihn zu und fragt sarkastisch, ob er wohl zu dem "Renaissance-Umzug" gehört, der am Ort stattfindet, bevor er ärgerlich vor sich hinbrummt: "Amerikaner sollten sich auch wie Amerikaner anziehen."
"Wir werden von allen Seiten kritisiert", berichtet Elizabeth Bootman, die zum Islam übertrat, als sie mit der Highschool fertig war. Sie studierte an der Universität Berkley und wuchs in der Gegend der liberalen San Francisco Bay als nicht religionsgebundene Amerikanerin auf. Heutzutage verhüllt sie ihr Haar und trägt einfache, unauffällige Kleidung. Aber der spirituelle Weg der amerikanischen Muslime ist kein einfacher.
Fundamentalistische Muslim-Gruppierungen haben die Sufi-Gemeinschaft kritisiert, weil sie ihrer Meinung nach vom traditionellen Islam abweichen – eine Anschuldigung, die die Sufi-Muslime allerdings auf das Schärfste von sich weisen. Außerdem werden sie in der Welt nach 9/11 oft mit anti-muslimischen Tendenzen konfrontiert.
Trotz aller Herausforderungen hält E. Bootman weiter an ihrem Glauben fest: "Wenn Sie sich fragen, warum in aller Welt eine westliche Person aus einem liberalen Land zu dem Entschluss kommt, Muslima zu werden, so müssen Sie die Geschichte und Weisheit der Lehren verstehen, die der Prophet Mohammed – Friede sei mit ihm – auf die Erde gebracht hat, wie gewaltig, aufgeklärt und befreiend seine Botschaft war. Viele Menschen im Westen interessieren sich für Spiritualität, insbesondere für die mehr kontemplative, die introspektive und friedvolle Seite dieser Spiritualität. Das ist es, was wir suchten, als wir diesem Orden beitraten, und genau das haben wir gefunden."
Mary Fowles
© Qantara.de 2011
Übersetzung aus dem Englischen von Antje Heizmann
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de