"Sufismus ist der unbekannte Islam"
Herr Schweizer, warum ist für Sie Sufismus der unbekannte Islam?
Gerhard Schweizer: Ich meine nicht den sufischen Volksislam, sondern den intellektuellen Sufismus der großen Mystiker wie Ibn al-Arabi (1165-1240) oder Celaleddin Rumi (1207-1273), die in ihrer Zeit nur bedingt geduldet und nicht unbedingt verstanden wurden. Von dieser islamischen Mystik haben auch Muslime selber teilweise nur eine sehr vage Vorstellung. Dieser Sufismus wird in vielen Ländern der islamischen Welt unterdrückt, weil er den Absolutheitsanspruch der Orthodoxie kritisiert und relativiert.
Was ist am Sufismus so bedrohlich für die Orthodoxie?
Schweizer: Der Sufismus der großen Klassiker geht über den uns traditionell vertrauten Gottesbegriff radikal hinaus. Bei Rumi etwa gibt es einen berühmten Vers: "Das Kreuz und die Christen nahm ich von allen Seiten in Augenschein. Er war nicht am Kreuz..." Das könnte noch jeder Muslim unterstreichen. Aber dann heißt es weiter: "Ich ging zur Kaaba und traf Ihn dort nicht". An dieser Stelle wird es kritisch. Soll "Er", der mystisch-universal verstandene Gott, nicht einmal im Islam enthalten sein?
Sufis vertreten die Ansicht, dass die Mystiker dogmatisch unterschiedlichster Religionen sich aus der "Schale", ihrem angestammten Glaubensbekenntnis, lösen und zu einem "Kern" gelangen, in dem alle die gleiche intuitive Gotteserfahrung machen. Bei Ibn al-Arabi findet sich die Aufforderung, man solle sich nicht an eine bestimmte Bekenntnisformel binden. Gott sei umfassender und größer als jede dogmatisch fixierte Vorstellung von Gott in irgendeiner heiligen Schrift – also auch größer als der im Koran definierte Gott.
Werden Sufis heute noch verfolgt?
Schweizer: Im Iran hat Khomeini Sufis wegen angeblicher Sittenlosigkeit hinrichten lassen. Aber seit Khatami sind die Werke beispielsweise von Rumi im Iran wieder erhältlich. Eine Sufismus-Tagung an der Universität Teheran mit international renommierten Orientalisten wurde 2002 erlaubt. Die Möglichkeiten der sufischen Toleranz wurden frei erörtert und Rumi rehabilitiert. Heute lässt sich die iranische Bildungsschicht nicht mehr vorschreiben, wen sie lesen darf. Solange Iraner das Regime nicht offen kritisieren, ist derartige Freiheit möglich.
Welchen Einfluss haben Sufis in der islamischen Welt, wenn ihre Lehren unterdrückt werden?
Schweizer: Ihre Lehren sind zwar unterdrückt, aber nicht vergessen. Die Frage ist allerdings, in welchem Kulturkreis ihre Lehren am intensivsten verarbeitet werden. Da gibt es eine Überraschung. Rumi und al-Arabi werden vor allem von westeuropäischen und amerikanischen Autoren in ihrer geistig bahnbrechenden Bedeutung erkannt und gewürdigt. Entsprechend werden sie bevorzugt einerseits von Muslimen im Westen, andererseits von Europäern und Amerikanern gelesen.
Yasar Nuri Öztürk, einer der bekanntesten türkischen Theologen, bedauert, dass nahezu alle wichtigen Bücher der letzten 50 Jahre über Rumi von westlichen Orientalisten geschrieben wurden. Kein Muslim hat ein wirklich bahnbrechendes Buch über den Sufismus veröffentlicht. Ihr religiöser Pluralismus gilt vielen als ketzerisch. Der Euro-Islam dagegen ist erheblich offener für sufische Strömungen. Die eigentliche Reformation des Islam findet in der demokratischen Atmosphäre muslimischer Migranten in Westeuropa statt.
Sind die Schriften der großen Mystiker in Ländern der islamischen Welt erhältlich?
Schweizer: In vielen dieser Länder sind die großen Werke oft nur ohne kritische Passagen erhältlich. Die Frage ist allerdings, wie viele Muslime der ohnehin schmalen Bildungsschicht kritische Interpretationen zu lesen bekommen. Ich habe immer wieder erlebt, dass Muslime aus Büchern westlicher Orientalisten zitieren, weil sie nur dort ausreichend über die radikal grenzüberschreitende Toleranz des Sufismus erfahren.
Kann der Sufismus den Weg zu einem aufgeklärten Islam bahnen?
Schweizer: Er kann zumindest dazu beitragen, aber dieser Prozess ruft große Widerstände hervor. Ich nenne nur ein Beispiel: Der ägyptische Korangelehrte Nasr Abu Zaid, bekannt für seine neuen Wege in der Koranauslegung, beruft sich ausdrücklich auf Ibn al-Arabi als religiös bedeutenden Kritiker der Orthodoxie. Arabi hat bereits sehr viele Koranstellen anders interpretiert als die Orthodoxie.
Es gibt kaum einen Mystiker, über den Korangelehrte derart streiten, ob er noch als islamisch gelten kann oder bereits ein Ketzer ist. Abu Zaid hat ausdrücklich darauf bestanden, dass Ibn al-Arabi Muslim ist, gerade in seinem unabhängigen Denken. Daraufhin haben Fundamentalisten 1995 heftige Unruhen gegen ihn inszeniert, so dass er nach Holland immigrieren musste, wo er heute in Leiden Islamwissenschaft lehrt.
Wird Abu Zaid verfolgt, weil er sich auf Schriften des 13. Jahrhunderts beruft?
Schweizer: Die meisten Ägypter wissen gar nicht so genau, wer al-Arabi ist, aber eine Reihe gebildeter Fundamentalisten hat sehr wohl die geistige Sprengkraft im Gedankengut al-Arabis erkannt. Eine religiös radikale Toleranz und die Einsicht in die Relativität aller rational begrifflichen Dogmatik - das ist es, was besonders Fundamentalisten fürchten.
Kann Sufismus heute neu in die islamische Welt wirken?
Schweizer: Allerdings, schon deshalb haben Fundamentalisten allen Grund zu sagen, vom Westen gehe eine geistige Gefahr aus. Der iranische Mystiker Omar Chaijam (1045-1122) zum Beispiel war in der islamischen Welt fast vergessen, bis ein englischer Schriftsteller ihn im 19. Jahrhundert übersetzte. Der späte Ruhm im Westen hat dann auf die islamische Welt zurück gewirkt. Heute ist Omar Chaijam für die iranische Bildungsschicht ein viel zitierter Autor und bedeutet mit seiner religiös-politischen Kritik eine Provokation für das Regime im Gottesstaat. Aber auch Mystiker wie Rumi und Ibn al-Arabi bekommen nach und nach in islamischen Ländern mit repressiven Regierungen eine ähnliche Funktion.
In welchen Ländern wird die religiöse Toleranz der Sufis positiv genutzt?
Schweizer: In der Türkei sind Derwischorden zwar offiziell noch verboten. Aber andererseits wird die Zahl jener religiös gebildeten Türken immer größer, die Sufismus schätzen, weil er zwischen verfeindeten Konfessionen und religiösen Denkschulen Brücken schlagen kann. In Marokko hat Mohammed VI. mit sufischen Bruderschaften Kontakt aufgenommen, damit sie ihn ideologisch im Kampf gegen die Fundamentalisten unterstützen. Interview: Claudia Mende
© Qantara.de 2007
Gerhard Schweizer: "Der unbekannte Islam. Sufismus – die religiöse Herausforderung", Klett-Cotta 2007