"In Malaysia gibt es ein Demokratie-Defizit"
Als Führer der Opposition ist Anwar Ibrahim einer der einflussreichsten Politiker in Malaysia. Im Interview mit Rizki Nugraha spricht er über die Beziehungen zwischen Muslimen und Christen, den Einfluss der Religion auf die Politik und die Aussichten für die Demokratie in seinem Land.
Die Spannungen zwischen den Religionen in Malaysia wachsen, seit ein Gericht entschieden hat, dass auch Nicht-Muslime das Wort "Allah" gebrauchen dürfen...
Anwar Ibrahim: Einige Kreise meinen, dass es in ihrem Interesse sei, die Spannungen anzuheizen, da sie ihnen letztlich entgegenkommen. Ich würde aber nicht sagen, dass den muslimisch-christlichen Beziehungen ein schwerer Schaden zugefügt wurde.
Die Antwort der christlichen Gemeinschaft auf die Brandanschläge war sehr positiv und maßvoll. Viele Muslime meldeten sich zu Wort und unterstützten die Christen, etwa indem sie Nachbarschaftskomitees zum Schutz der Kirchen bildeten.
Ich bin zuletzt viel im Land gereist und war dabei auch in Gegenden weit ab vom Epizentrum der so genannten Unruhen; dabei habe ich feststellen können, dass die Menschen im Allgemeinen sehr unbeeindruckt von der Gerichtsentscheidung sind und auch sehr misstrauisch, wenn sie fürchten, von "denen da oben" manipuliert zu werden, deren sinkende Umfragewerte der wirkliche Grund für die Krise sind. Ich freue mich jedenfalls sagen zu können, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich nicht hinters Licht führen lässt.
Warum bestand die malaysische Regierung darauf, gegen das Gerichtsurteil in Berufung zu gehen, wenn sie doch damit riskiert, die Kluft zwischen den Christen und Muslimen weiter zu vergrößern?
Ibrahim: Die Regierung ging in Berufung, weil sie sich von einigen Hitzköpfen in Geiselhaft nehmen lässt. Sie benutzt die Angelegenheit, um die Gesellschaft zu spalten — in der Hoffnung, an den extremen Rändern der Wählerschaft ein paar Stimmen zu gewinnen. Ob sie damit zu einer Verschärfung der Spannungen innerhalb der Gesellschaft und zum Unfrieden beitragen, ist ihnen ziemlich egal.
Maznah Muhammad, ein in Singapur lebender Politikexperte, ist besorgt, dass die malaysische Regierung die Grenzen zwischen Politik und Religion zunehmend verwischt. Halten sie diese Befürchtung für gerechtfertigt?
Ibrahim: Die föderale Verfassung Malaysias legt die Rolle der Religion innerhalb der malaysischen Gesellschaft sehr genau fest. Der Islam ist Staatsreligion, doch bleibt das Recht der Ausübung anderer Religion davon unberührt. Wir halten es für vollkommen richtig, dass sich die Religion in der politischen Welt widerspiegelt, indem Werte, die von der Religion hochgehalten werden — Gerechtigkeit, Gnade, Liebe und Mitgefühl —, die Politik inspirieren und zu mehr Frieden und Wohlstand führen.
Die gegenwärtige Regierung Malaysias aber ist berüchtigt dafür, Religion und Politik für ihre sinistren Zwecke zu gebrauchen. Der Islam wird in einer Weise praktiziert, die nur als repressiv zu bezeichnen ist, sie steht im völligen Gegensatz zu den Prinzipien der Religion und verletzt einige der Grundlagen unserer Verfassung. Dies ist ein Machtmissbrauch, der unbedingt gestoppt werden muss.
Die Entscheidung der Regierung, das Urteil anzufechten, vermittelt den Eindruck, als ob sie nur den Interessen einer gewissen Gruppe der Bevölkerung entgegenkommen will. Hat der Säkularismus keine Zukunft in Malaysia?
Ibrahim: Die Befangenheit der Regierung in allen juristischen Fragen ist klar zu erkennen. Seitdem der neue Premierminister im April 2008 an die Macht gekommen ist, hat die Regierung keinen einzigen Fall verloren, der vor das Berufungsgericht gekommen ist. So ist es eigentlich immer schon vorher klar, dass politisch grundierte Fälle letzten Endes im Sinne oder im Ermessen der "United Malays National Organisation" (Umno) entschieden werden.
Es geht also gar nicht um den Säkularismus oder dessen Niedergang. Das wirkliche Dilemma, in dem wir stecken, ist ein Defizit an Demokratie. Ein korruptes Justizsystem, willfährige Medien und das Fehlen persönlicher Freiheiten bedeutet, dass die Regierung in der Verfassung festgelegte Bestimmungen mit Füßen treten kann. Zurzeit ist es die Religion, die von der Regierung dazu missbraucht wird, um die extremen Ränder der Wählerschaft für sich zu gewinnen. Dabei werden auch einige Grenzen überschritten, die das Verhältnis zwischen Staat und Religion regeln.
Doch die Bereitschaft der Regierungspartei, zur Festigung ihrer Machtstellung auch die Grenzen des Rechts zu missachten, zeigte sich schon zuvor in vielen Formen, in ungezügelter Korruption und dem Anheizen ethnischer Konflikte. Deshalb muss es unser vordringliches Anliegen als Opposition sein, die Verfassung zu schützen und sie als Garanten des demokratischen Pluralismus und der Verlässlichkeit zu bewahren.
Wie reagierten die mit der "Barisan Nasional", der Nationalen Front (Regiertungskoalition aus gegenwärtig 13 Parteien) verbundenen Parteien, also etwa die "Malaysian Chinese Association" und der "Malaysian Indian Congress" auf die Politik von Premierminister Najib Razak?
Ibrahim: Der Widerspruch, der in ihrer Verbindung mit der immer engstirnigeren und rassistischen Umno liegt, tritt immer deutlicher zutage. Ihre Optionen sind allerdings auch begrenzt. Was sollten sie anderes tun, als ihre Bedenken zurückzustellen, angesichts der Freigebigkeit der Regierung? Diese Parteien stehen für das alte politische System Malaysias, das seine beste Zeit hinter sich hat und sich langsam seinem Dahinscheiden nähert. Es wäre sehr unrealistisch, wollte man unter den gegebenen Umständen von ihnen eine grundlegende Veränderung ihrer Anschauungen erwarten.
Ist es nicht ironisch, dass zwei der einflussreichsten politischen Kräfte in Malaysia — "Barisan Nasional" und die "Parti Islam Se-Malaysia" (Islamische Partei Malaysias) — Parteien sind, die zumeist als konservativ-islamisch charakterisiert werden? Worin bestehen denn die Unterschiede zwischen Ihrem Bündnispartner und der Regierungspartei, etwa wenn es um die Förderung des religiösen Dialogs geht?
Ibrahim: Mit dieser Charakterisierung stimme ich nicht überein. Die "Parti Islam Se-Malaysia" spielt innerhalb der Opposition eine bedeutende Rolle und ja, sie ist eine konservative Partei. In der Krise, die sich am "Allah-Urteil" entzündet hat, haben sie jedoch ihren Standpunkt sehr deutlich gemacht: Christen und Juden dürfen den Namen Allahs gebrauchen, eine Haltung, die durchaus den Mainstream der islamischen Meinung in dieser Frage abbildet.
Die "Parti Islam Se-Malaysia" also mit der Umno als Exponenten eines konservativen Islam in einen Topf zu werfen, hieße, sie gründlich misszuverstehen. Sowohl die "Parti Islam Se-Malaysia" als auch die übrige Opposition befürworten einen Dialog mit all jenen, denen an religiöser Harmonie zwischen allen Teilen unserer Bevölkerung gelegen ist.
Die ethnischen Gruppen Malaysias sind noch immer fragmentiert, insbesondere in politischer Hinsicht. Jede einzelne Gruppe neigt dazu, einzig ihre partikularen Interessen zu vertreten. Sehen Sie dieses Phänomen als Herausforderung oder sogar als Chance für die Demokratie im Land?
Ibrahim: Es ist wahr, dass die unterschiedlichen ethnischen Gemeinschaften in Malaysia ihre Interessen noch zu oft in einer sehr engstirnigen Weise wahrnehmen. Das liegt daran, dass die Regierung, seit 52 Jahren ununterbrochen an der Macht, diese Einstellungen gefördert und unterstützt hat. Ihr bietet diese "Teile-und-herrsche"-Strategie viele Vorteile. Die einzelnen ethnischen Gruppen reagieren in kritischen Situationen häufig mit der heftigen Verteidigung ihrer Gebietsansprüche und einer Mentalität, die in letzter Konsequenz ethnische Ghettos schafft.
"Pakatan Rakyat", die informelle Oppositionskoalition, an deren Spitze ich mit zwei anderen Parteiführern stehe, widersetzt sich dieser Entwicklung vehement. Mit einem kürzlich verabschiedeten "Common Policy Framework" haben wir den Prozess der Aufweichung dieser erstarrten Strukturen beschleunigt; es geht uns um eine Transformation der malaysischen Gesellschaft, die ethnischen Hegemoniebestrebungen ebenso wenig Vorschub leistet wie wirtschaftlicher und rechtlicher Korruption sowie einer allgemeinen Atmosphäre des Verfalls.
Bislang haben die Menschen auf unsere politischen Angebote sehr positiv reagiert. In fünf wichtigen Bundesstaaten haben wir bei den letzten Wahlen auf Länderebene gesiegt und werden in einigen Jahren auch auf gesamtstaatlicher Ebene auf Augenhöhe mit der Regierungskoalition sein. Ich glaube, dass unsere politischen Agenda künftig gute Aussichten haben wird.
Interview: Rizki Nugraha
© Qantara.de 2010
Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol
Anwar Ibrahim war von 1993 bis 1998 Vize-Regierungschef Malaysias. 1998 wurde er vom damaligen Premierminister Mahathir bin Mohamad aus dem Amt entlassen und inhaftiert. Erst im September 2004 wurde Ibrahim nach sechsjähriger Haft aus dem Gefängnis entlassen, nachdem Malaysias höchstes Gericht eine Verurteilung zu neun Jahren Haft wegen Korruption und homosexueller Kontakte aufgehoben hatte. Seit Anfang Februar 2010 muss sich der namhafte Oppositionspolitiker erneut vor Gericht verantworten. Ibrahim wird beschuldigt, einen früheren Mitarbeiter sexuell belästigt zu haben.
Qantara.de
Islam und Politik in Malaysia
Im Fahrwasser der Islamisierung
Obwohl sich Malaysia mit seiner multikulturellen Bevölkerung zum politischen Pluralismus bekennt, ist eine Verschmelzung von Islam und Regierungspolitik gegenwärtig unübersehbar. Von Maznah Mohamad
Anwar Ibrahim
Demokratie schützt vor repressivem Islam
Ethnische Spannungen, wirtschaftliche Probleme - Malaysia steht an einem kritischen Punkt, meinen Beobachter. Die vorzeitige Haftentlassung des wegen Korruption verurteilten ehemaligen Vizepremiers heizt die Spekulationen an. Lennart Lehman berichtet.
Malaysia
Mahathirs schwieriges Erbe
Malaysia gilt als seltenes Beispiel für einen fortschrittlichen Islam. Doch die jahrzehntelange Förderung der Muslime führte auch zu einer Ethnisierung der Gesellschaft. Charlotte Wiedemann über das Erbe des zurückgetretenen Premiers Mahathir Mohamad.