Wir sollten den Mut haben Fragen zu stellen

Im Konflikt zwischen Befürwortern und Kritikern des New Yorker Freitagsgebets von Amina Wadud warnt die islamische Theologin Halima Krausen vor schnellen Schlussfolgerungen.

Von Halima Krausen

​​Anlässlich des Freitagsgottesdienstes in New York am 18. März, der von Dr. Amina Wadud geleitet wurde, und der darauf folgenden emotional geladenen öffentlichen Debatte bin ich wiederholt nach meinen Ansichten zu diesem Thema gefragt worden.

Ich denke allerdings, dass die Angelegenheit zwar auf den ersten Blick einfach klingt, tatsächlich aber komplizierter ist, als sie zu sein scheint. Ich würde deshalb einige Denkanstöße zu der laufenden Diskussion beitragen, anstatt einen eigenen Standpunkt vorzustellen.

Bedeutungsvielfalt des Wortes "Imâm"

Zunächst einmal ist es überhaupt nicht klar, wovon wir eigentlich reden. Weit davon entfernt, ein wohl definierter "Dienstrang" zu sein, wird das Wort "Imâm" nämlich mit einem weiten Spektrum von verschiedenen Bedeutungen benutzt.

Im Koran wird das Wort in einem viel grundlegenderen Sinne benutzt und bezieht sich auf führende Beispiele wie Abraham (Sure 2:124) oder die Richter der Kinder Israel (Sure 32:23-24) oder das Potential rechtschaffener Menschen im allgemeinen (Sure 25:74; 28:4-5), aber auch auf irreführende Beispiele wie Pharao und seinesgleichen, die "zum Feuer" führen (Sure 28:39-41).

Mit seiner Herkunft aus der Wurzel „amma“ – voranschreiten, führen, vorn sein – ist das Wort „Imâm“ mit dem Wort „umm“ – Mutter – verwandt, das über den biologischen Aspekt hinaus Quelle, Grundlage, Wesen bedeutet.

Der zweite anscheinend unklare Punkt in der gegenwärtigen Debatte ist die Methodologie. Sowohl Befürworter als auch Kritiker jenes Freitagsgottesdienstes in New York ziehen sehr oft vorschnelle Schlussfolgerungen entweder aus einzelnen Überlieferungen, da der Koran nicht direkt auf die Frage Bezug nimmt oder aus angenommenen Prinzipien, ohne den Hintergrund auszuloten oder den Zusammenhang zu beachten.

Eins der häufigsten Argumente ist, dass "dies nie zuvor stattgefunden hat oder für möglich gehalten wurde und demnach nicht stattfinden sollte".

Inflexibilität durch Überbetonung eines Rechtsprinzips

Es gibt tatsächlich das methodologische Prinzip von „Istishâb“, der Fortführung einer rechtlichen Regelung, solange die Bedingungen dieselben bleiben, wodurch rechtliche und gesellschaftliche Experimente als Selbstzweck vermieden werden sollen und das für Veränderungen einen zwingenden Grund fordert – besonders dann, wenn es um gottesdienstliche Handlungen („'Ibâdât“) geht.

Vor allem in den sunnitischen Rechtsschulen ist es zu einer unausgesprochenen Überbetonung dieses Prinzips gekommen, noch verstärkt durch die Doktrin, dass angeblich "die Tore des Ijtihâd (islamische Rechtsfindung) geschlossen" seien, was oft zu einer Inflexibilität im Recht geführt hat.

Selbst in gottesdienstlichen Dingen sind Veränderungen vorgenommen worden: während wir es als gegeben hinnehmen, dass wir dem prophetischen Vorbild folgen, z.B. beim rituellen Gebet (und dies zweifellos im Prinzip auch tun), folgen wir tatsächlich standardisierten Anweisungen muslimischer Gelehrter aus der formativen Zeit, deren Einzelheiten von einer Rechtsschule zur anderen variieren kann.

Wobei wir dem Bedürfnis nachgeben, diese Unterschiede zumindest in der Diaspora um der Einheit der Muslime willen weiter zu vereinfachen, statt die Dynamik zu nutzen, die sie anbieten, um unseren spirituellen und kulturellen Reichtum weiter zu vertiefen.

Ungeduld der Reformer

Unter Verweis auf die ontologische Gleichheit von Männern und Frauen im Koran und die gleichen Begriffe, die dort für ihre praktische und spirituelle Verantwortung benutzt werden (z.B. Sure 4:1, 33:35, 9:71 usw.) versuchen die Befürworter der Veränderung andererseits oft ungeduldig, die Entwicklung der muslimischen Tradition in der Vergangenheit zu umgehen, und fordern, dass sofortige Reformen in Richtung auf Gerechtigkeit und Gleichheit unmittelbar hier und jetzt umgesetzt werden.

Im Islam gibt es keine Amtshierarchie. Trotzdem wurden im klassischen „Fiqh“ (islamisches Recht) Prioritätsfragen bezüglich der Leitung von Gemeinschaftsgebeten oft nicht allein nach Maßstäben des Wissens, der Qualität der Rezitation oder der Frömmigkeit entschieden, sondern die gesellschaftliche Hierarchie betreffenden Rücksichten wurde ebenfalls Gewicht beigemessen.

Innerhalb der patriarchalen Strukturen, die im größeren Teil der islamischen Welt in jenen Tagen vorherrschten, wäre der Gedanke an eine Frau als Leiterin öffentlicher ritueller Gebete als eigenartig empfunden worden.

Nach Ansicht der meisten Rechtsschulen können Frauen Gebete für Frauen leiten. Es gibt Tendenzen, Frauen davon abzuhalten und – im Falle der „mâlikitischen Schule“ – es ihnen zu verbieten, allem Anschein nach unter dem Einfluss eines „Hadîth“ (Überlieferung des Propheten).

Demzufolge kann "ein Volk, das seine Angelegenheiten einer Frau anvertraut, nicht erfolgreich sein", das oft als Argument gegen Frauen in Führungspositionen angeführt wird, aber weder die Kriterien der Authentizität erfüllt noch mit dem Bild der Königin von Saba im Koran in Einklang gebracht werden kann oder mit dem Prinzip, dass Männer und Frauen als gegenseitige Freunde und Verbündete („Awliyâ'“) "Gutes gebieten und Böses verwehren" (Sure 9:71).

Gebete für Frauen von Frauen des Propheten

Demgegenüber gibt es bestätigte Berichte darüber, dass die Frauen des Propheten durchaus Gebete für Frauen leiteten, und zwar mit Einzelheiten wie der Tatsache, dass in diesen Fällen der (weibliche) Imâm zwischen den anderen Frauen in der Reihe stand.

Weit davon entfernt, alle Debatten zu kennen, die in der Vergangenheit zu diesem Thema geführt wurden, haben wir nur Zugang zu dem, was schriftlich festgehalten wurde und erhalten geblieben ist. Tatsächlich gab es Gelehrte, die nichts dagegen einzuwenden hatten, dass Frauen sogar gemischte rituelle Gebete leiteten, darunter Abu Thawr al-Kalbi (gest. 876), Abu Isma'il al-Muzani (gest. 879), Ibn Taymiyya (gest. 1328)u.a..

Wir kennen nicht viele Details ihrer Argumente, aber andererseits haben wir auch keine Nachrichten darüber, dass sie in ihrer Zeit mit ihrer Position einen Proteststurm auslösten oder von ihren zeitgenössischen Kollegen verurteilt wurden.

Dies mag daran gelegen haben, dass die von ihnen erwähnten Fälle aus Ausnahmen zu betrachten waren, dass z.B. eine Frau die „Tarawîh-Gebete“ (freiwillige Gebete während des Fastenmonats Ramadan) leiten darf, wenn es keinen Mann gibt, der den Koran auswendig kennt oder die Gebete mit ihrem Mann, ihren Kindern und ihren Sklaven, wenn sie die Gelehrteste von ihnen ist.

Man könnte argumentieren, dass „Tarawîh-Gebete“ nicht obligatorisch sind und ein Gebet mit der eigenen Familie keine öffentliche Situation darstellt, und dass man Ausnahmen nicht unversehens in Regeln verwandeln kann. Andererseits könnte man solche Ausnahmen auch als Bestätigung der Theorie verstehen, dass nicht theologische oder prinzipielle, sondern gesellschaftliche Gründe bei diesen Entscheidungen ausschlaggebend waren.

Präzedenzfall „Umm Waraqa“

In der gegenwärtigen Debatte wird oft der Präzedenzfall von „Umm Waraqa“ angeführt: Aus verschiedenen einander ergänzenden Versionen ihrer Geschichte, erfahren wir, dass sie eine der Frauen war, die den Koran auswendig kannte, und dass der Prophet sie aufforderte, Imâm für die Angehörigen ihres Hausstandes („Ahl Dârihâ“) zu sein.

Kritiker haben versucht sicherzustellen, dass in der einen oder anderen „Isnâd“ (Überliefererkette) Schwachstellen zu finden sind, die die Authentizität in Frage stellen können, während das Beispiel auch unkritisch als Belegtext benutzt wurde, um für Frauen gleiche Rechte bei der Leitung öffentlicher Gebeten zu fordern.

Zwischen den Extrempositionen findet eine Debatte darüber statt, wer die Angehörigen ihres Hausstandes waren und ob die Situation eine private oder eine öffentliche war.

Es scheint keine Beispiele für Frauen zu geben, die Freitagspredigten hielten, aber es gibt viele Frauen, die als Predigerinnen bei anderen Anlässen berühmt geworden sind. Wir brauchen nur in den klassischen Biographiensammlungen nachzuschlagen.

Wir würden uns allerdings selbst betrügen, wenn wir es hierbei bewenden ließen und die zahlreichen Aussagen ignorierten, denen zufolge Frauenstimmen verführerisch sind, das Heil der Frau von der Zufriedenheit ihres Mannes abhängt, Gedächtnis und Intellekt der Frau mangelhaft sind, Frauen Versuchung und Störung („Fitnah“) verursachen und dergleichen, hergeleitet von aus dem Zusammenhang gerissenen Koranversen, Überlieferungen, oder allgemeinen Vermutungen.

Ich bin eigentlich überrascht über das relative Nichtvorhandensein dieser Argumente in der gegenwärtigen Debatte und frage mich, ob dies ein Zeichen für eine Entwicklung hin zu einem vernünftigeren Zugang ist oder nur ein Versuch, politisch korrekt zu sein.

Aufwertung der Frau in der islamischen Gemeinschaft

Die Debatte über Frauen als Imâme ist symptomatisch. Was wir eigentlich brauchen, ist eine kritische Auswertung der Situation, die die muslimische „Ummah“ (Gemeinschaft) herausfordert.

In meiner eigenen alltäglichen Arbeit mit Muslimen in Europa begegnen mir Menschen aus verschiedenen arabischen Ländern, vielfach Studenten oder Flüchtlinge mit unterschiedlichen Hintergrund, was Bildung und politische Einstellung betrifft, die oft auf einer strengen Geschlechtertrennung bestehen, die aber andererseits nicht immer eine Benachteiligung darstellt, denn sie fördert oft die Initiative und Solidarität unter Frauen.

Ich bin manchmal überrascht über die Unterstützung für die Töchter, bei ihren Bemühungen zu studieren und über die Versuche in anderen Familien, sie einzuschränken und zu kontrollieren.

Da sind türkische Arbeitsmigranten, oft von klaren ländlichen Rollenerwartungen geprägt, während sich die nächste Generation durch ein Labyrinth von Werten und Normen zwischen den Kulturen durcharbeitet, in einem dramatischen Ringen um ihre Identität.

Viele Muslime, besonders Frauen, haben Angst. Sie haben Angst vor Verschiedenheiten, die zu einer Fragmentierung der Gemeinschaft führen, bis zu einem Punkt, wo sie unfähig sind, mit Widersprüchen und Meinungsverschiedenheiten umzugehen oder sich ihnen überhaupt nur zu stellen.

Viele Muslime, besonders Frauen, sind zornig. Zornig auf Stereotype von außen und Ignoranz und Aberglauben innerhalb der Gemeinschaft, auf die sie ständig herausgefordert sind zu reagieren, so dass kaum Zeit zu konstruktivem Denken übrig bleibt.

Sie sind zornig, weil sie sich um ihr spirituelles und kulturelles Erbe betrogen fühlen, und über den Mangel an Möglichkeiten, an einer zeitgemäßen Interpretation und Umsetzung von Werten zu arbeiten.

Sollen wir unkritisch wie Sklaven allem gehorchen, was uns im Imperativ gesagt wird, ohne nach dem Sinn zu fragen? oder sollen wir auf die koranischen Ideale hinarbeiten, nach denen Männer und Frauen als Partner (Sure 9:71) mit gleichen moralischen Werten und religiösen Verpflichtungen (Sure 33:35) eine Gesellschaft der Gerechtigkeit aufbauen?

Und auf einer etwas anderen Ebene: sollen wir der Frauenbildung und der Verbesserung ihrer Lage in der Gesellschaft im allgemeinen und in der muslimischen Gemeinschaft im besonderen Prioritäten einräumen oder symbolische Aktionen vorantreiben, von denen man vielleicht erwarten kann, dass sie einen Einfluss auf die Situation haben? Oder gibt es da sogar noch andere Wege, die Dinge zum Besseren hin zu verändern?

Mut zu zeitgemäßen Überlegungen

Es gibt also gegenwärtig weit mehr offene Fragen als klare Antworten. „Ijtihâd“ ist auf vielen anderen Gebieten überfällig, und es gibt viele rechtliche Regelungen, die sich vom Geist des Koran entfernt haben, während sie allem Anschein nach auf Textfragmenten begründet sind.

Abgesehen davon ist die Lehre, dass Muhammad der abschließende Gesandte ist, nicht gleichbedeutend mit einer statischen Situation, sondern vielmehr der Anfangspunkt zu einer reiferen Art und Weise, zum Wohlergehen der menschlichen Gesellschaft beizutragen.

Ich möchte sicherlich nicht dahingehend missverstanden werden, als ob ich irgendwelchen Gelehrten der Vergangenheit gegenüber Respektlosigkeit zum Ausdruck bringen wollte.

Was auch immer ihr Standpunkt war, sie haben sich äußerste Mühe gegeben, nicht einfach isolierten Aussagen oder übereilten Schlussfolgerungen aus Präzedenzfällen zu folgen, sondern systematisch im Rahmen ihrer spezifischen Methodologie, Erfahrung und Gesellschaft zu arbeiten.

Im selben Geiste dürfen wir ihnen allerdings nicht blind folgen, sondern sollten den Mut haben, unsere eigenen Fragen zu stellen, diese Angelegenheiten gewissenhaft zu studieren und zu Schlussfolgerungen zu gelangen, die in unserer eigenen Zeit sinnvoll sind.

Halima Krausen

© Qantara.de 2005

Halima Krausen ist islamische Theologin, Mitglied und Dozentin der Initiative für islamische Studien in Hamburg.

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