„Intersektional, lange bevor es den Begriff gab“
Qantara: Endlich ist Nawal El Saadawis bahnbrechender Text „Die Frau und Sex“ (1971) auch für deutschsprachige Leser:innen zugänglich. Was hat Sie dazu bewogen, ihn gerade jetzt für Ihren Verlag Gamila ins Deutsche zu übersetzen?
Sophie Haesen: „Die Frau und Sex“ ist ein zeitloses, furchtloses Buch. Das erste Mal habe ich als Teenagerin von Nawal El Saadawi gehört und gelesen, aber eben immer nur Artikel über sie, nie die Originaltexte. Zuallererst haben jetzt also auch deutschsprachige Leser:innen Zugang zu ihrem Werk.
Nawal behandelt Themen, die damals neu und eher unbekannt waren, etwa weibliche Genitalverstümmelung. Ab den späten 1970er Jahren kam die Diskussion darüber auch in Deutschland auf.
Ich denke, es ist lange überfällig, dass Nawal die Anerkennung erhält, die sie verdient. Sie ist nie davor zurückgeschreckt, Dinge anzusprechen, die anderen unangenehm sein könnten, die jedoch existieren und angegangen werden müssen.
Ehrlich gesagt war ich mir sicher, dass dieses Buch bereits ins Deutsche und Englische übersetzt sein musste. Die Erstveröffentlichung lag ja so weit zurück. Es gab jedoch nur eine fragwürdige französische Übersetzung. Also haben wir uns entschieden, das zu ändern. Es dauerte dann noch eine Weile, bis wir geklärt hatten, wer die Rechte an dem Buch hat.
El Saadawis Werk wurde zensiert, als es erstmals in Ägypten erschien. Beeinflusst diese Geschichte der Zensur die Art, wie Sie das Buch heute für ein neues Publikum aufbereiten?
Wir wollten das Buch nicht überladen. Wie viel Kontext und Zusatzinformationen man gibt, sollte immer wohlüberlegt sein. Wir wollten das Werk für sich selbst sprechen lassen.
Es handelt sich nicht um eine wissenschaftliche Ausgabe, die den kompletten Kontext liefert. Diese Informationen kann man auch an anderer Stelle nachlesen. Der Text an sich ist zeitlos, denn er spricht eine Diskriminierung an, die nicht nur im Ägypten der 1970er Jahre stattfand, sondern bis heute in vielen Kontexten präsent ist.
Wir haben uns also darauf beschränkt, etwas Hintergrundwissen zu den Expert:innen einfließen zu lassen, die sie zitiert. Interessierte Leser:innen können sicher selbst über das Buch hinaus recherchieren. Beispielsweise zur Zensur in Ägypten oder auch zu El Saadawis Reisen in Länder, die heute nicht mehr existieren, wie die DDR oder die Sowjetunion.
Fordert das Buch deutsche Vorstellungen von Feminismus heraus? Erweitert es möglicherweise das Verständnis für Konzepte außerhalb des westlichen Rahmens?
Das hoffe ich sehr. Im Allgemeinen sehe ich in Medien und Politik eine Tendenz, über andere zu sprechen, ohne sie für sich selbst sprechen zu lassen. Ergreifen sie dennoch das Wort, hört man ihnen kaum zu.
Das kommt auch in Kreisen vor, die sich selbst für progressiv und aufgeklärt halten. Nawals Stimme in Deutschland Gehör zu verschaffen, könnte so manche einfache, aber falsche Annahme in Frage stellen – zum Beispiel, dass es der Westen immer am besten weiß.
Wichtig ist auch, dass Nawals Feminismus intersektional war, lange bevor der Begriff in den späten 1980er Jahren geprägt wurde. In dem nun übersetzten Buch spricht sie ohne mit der Wimper zu zucken über Diskriminierung auf Grundlage von Geschlecht, Ethnizität, Religion, sozialem Status und Bildung und zeigt, wie sie sich überschneiden und gegenseitig verstärken.
Viele Verlage sind zurückhaltend, wenn es darum geht, kontroverse feministische Werke aus dem Globalen Süden zu veröffentlichen. Woher hatten Sie die nötige Zuversicht, um diesen Schritt zu wagen?
Ich habe es immer geliebt, Nawal zuzuhören, beispielsweise wenn sie in einem ihrer Interviews über ihre rebellische Großmutter spricht. Vielleicht gibt es da auch in mir eine kleine rebellische Seite, die von meiner Großmutter kommt.
Im Verlag hatten wir einfach das Gefühl: Wenn es bis jetzt noch niemand übersetzt hat, ist es an der Zeit. Das ist ein Vorteil von kleinen Verlagen: Wir sind unabhängig und müssen nicht ständig darauf achten, niemandem auf die Füße zu treten.
Hundert Jahre arabischer Feminismus
Von Tunesien bis Saudi-Arabien: Seit Jahrzehnten streiten arabische Frauen für ihre Rechte, wehren sich gegen Gewalt und fordern Selbstbestimmung über ihre Leben und Körper. In diesem Buch kommen sie selbst zu Wort.
Was waren die größte Herausforderungen, als Sie El Saadawis Text ins Deutsche übertrugen? Und wie haben Sie die Englisch-Übersetzerin ausgewählt?
Einige von mir angefragten Übersetzer:innen lehnten ab, weil sie sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlten. Dann traf ich zufällig Doaa Elfalfy. Wie Sie in ihrem Vorwort für unsere Ausgabe lesen können, hat sie nicht nur eine sehr persönliche Verbindung zu dem Buch, sondern konnte mir auch noch entscheidend beim Klären der Buchrechte weiterhelfen. Sie kannte Nawals Tochter und stellte den Kontakt zu ihr her.
Ich glaube, eine der größten Herausforderungen für Doaa war es, so nah wie möglich am Originaltext zu bleiben und nichts zu umschreiben oder abzuschwächen. Meine Arabischkenntnisse sind eingerostet und eher passiv, aber ich konnte zumindest nachfragen, wenn ich das Gefühl hatte, dass die Übersetzung vom Original abweicht. Im Übersetzungsprozess standen wir stets im Austausch zu dieser Frage.
Sie haben das Buch bei der Veranstaltung „Celebrating Arab Feminisms“ am 25. Oktober in Berlin vorgestellt. Dort kamen arabische feministische Stimmen aus Literatur, Film und Kunst zusammen. Wie trägt die deutsche Übersetzung von „Women and Sex“ zu diesem breiteren Diskurs bei?
Es spricht Bände, dass diese Veranstaltung in Deutschland und besonders in Berlin stattfand. Berlin ist ein Zentrum vieler diasporischer Communities geworden, unter anderem der arabischen Diaspora. Sie ist aufgrund mehrerer Ereignisse der jüngeren Vergangenheit gewachsen, ist aber selbstverständlich keine homogene Gruppe.
Der breitere Diskurs, den Sie ansprechen, findet global an vielen Orten statt. Deutschland und Europa im Allgemeinen können einen privilegierten Raum bieten, in dem diese Debatten in einem relativ sicheren Umfeld stattfinden können.
Für mich ist die deutsche Übersetzung von Nawals Buch wichtig, um die Debatte einem breiteren deutschen Publikum näher zu bringen und so einen besseren Austausch zwischen den Communities zu ermöglichen.
Was, glauben Sie, würde Nawal El Saadawi zu dieser deutschen Ausgabe sagen, wäre sie noch am Leben?
Ich hoffe, dass sie uns ihr strahlendes Lächeln schenken und sagen würde: „Das habt ihr sehr gut gemacht“. Das waren die Worte ihrer Tochter.
„Die Frau und Sex“ von Nawal El Saadawi
Übersetzung Arabisch/Englisch von Doaa Elalfy; Englisch/Deutsch von Sophie Haesen
Gamila Verlag Basel, September 2025, 236 Seiten
Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des englischen Originals. Übersetzung von Jana Treffler.
© Qantara.de