Charlotte Wiedemann, 1. Juni 2004
Liebe Frau Dr. Ghazala Irfan,
gerade bin ich zurückgekommen aus Pakistan, noch benommen von den Eindrücken, den Bildern, den krassen Gegensätzen Ihres Landes. Als ich Sie in Lahore besuchte, brachte ich eine pakistanische Tageszeitung mit, als kleine Illustration meiner wachsenden Verwirrung. In dieser einen Ausgabe fand sich auf der Meinungsseite eine ultrakonservative Epistel über islamische Kleidervorschriften, daneben Bilder halbnackter Mode-Mädchen auf der Lifestyle-Seite. "Tja", sagten Sie gelassen, "so geteilt ist unsere Gesellschaft". Aber wie lebt man in einer so geteilten, so zerrissenen Gesellschaft?
Ich sortiere meine Notizen aus Pakistan, sie handeln vor allem von der Situation der Frauen. Es sind Notizen über so extreme Unterschiede, als sei ich nicht durch ein einziges Land, sondern durch mehrere gereist - oder als stammten meine Notizen aus verschiedenen Jahrhunderten.
Auf der einen Seite Frauen wie Sie: hoch gebildet, eloquent, selbstbewusst. Philosophie-Professorin an einer privaten Elite-Universität - das ist auch im Westen, wo wir uns auf unsere Emanzipation so viel einbilden, keine leicht zu erringende Position. In das geläufige Pakistan-Bild will das ohnehin nicht passen: Dass es bei Ihnen eine Zivilgesellschaft gibt mit ganz erstklassigen Frauen, deren Stärke ich manchmal als geradezu einschüchternd empfand.
Und dann das andere Extrem: Absolute Rechtlosigkeit. Südwestlich von Peshawar, nahe der Grenze zu Afghanistan, besuchte ich ein Städtchen, dessen Mauern mich bis in düstere Träume verfolgten. Die Frauen kennen nur das Stück Himmel zwischen den hohen Mauern ihrer Höfe, sie verlassen ihre Häuser nie, außer zu gelegentlichen Familienfeiern, und dann müssen sie sich verstecken unter einer schweren Burka.
Ich bin mir sicher: Für Sie wäre ein solches Leben, das zur Unsichtbarkeit verurteilt, genauso unvorstellbar wie für mich - ganz unabhängig davon, dass Sie Muslimin sind, und ich bin es nicht. Aber es stimmt eben auch, dass in diesem Städtchen die islamischen Geistlichen predigen, der Islam schreibe die Burka vor, und Frauen, die bei 46° C Hitze keine Socken tragen mögen, würden zur Hölle fahren.
Voilà, hier haben wir die Gegensätze Pakistans: Sie, liebe Ghazala, lehren muslimische (wie auch westliche) Philosophie an einer der modernsten Lehranstalten des Landes - und anderswo wird den Frauen eine verballhornte Version vom Islam serviert, die sie kritiklos schlucken. Weil es ihnen an jeglicher Bildung fehlt. Und weil sich die muslimischen Patriarchen von heute uralter, vorislamischer Traditionen bedienen, um das männliche Machtmonopol zu sichern.
Nahezu alle meine Gesprächspartner in Pakistan waren erzürnt über die einseitige westliche Wahrnehmung, die in Ihrem Land nicht anderes als eine "Brutstätte des Terrorismus" sieht. Der Zorn ist berechtigt. Aber welches Pakistan-Bild wäre zutreffend? Wohin entwickelt sich Ihre Gesellschaft, deren Widersprüche sich in der Situation der Frauen ja nur am auffälligsten spiegeln?
Gewinnen religiöse Fanatiker an Einfluss, wie der Westen glaubt? Sicherlich übersehen wir die Gegenkräfte, die Zivilgesellschaft, die städtische liberale Intelligenz. Aber wie kommt es, dass der Islam von bärtigen Finsterlingen so viel lauter in Anspruch genommen wird als von den progressiven Kräften Pakistans?
Ich brauche Ihre Hilfe, um Ordnung in meine Notizen zu bringen!
Es grüßt Sie herzlich aus Berlin
Charlotte Wiedemann
Charlotte Wiedemann lebt als freie Autorin in Berlin. Von 1999 bis 2003 war sie freiberufliche Korrespondentin in Südostasien (Woche, Weltwoche, Merian, Geo) mit Wohnsitz in Malaysia.