„Ein Buch über Hoffnung, Wut und Angst“
Qantara: Herr Muna, im Vorwort von „Daybreak in Gaza“ stellen Sie gemeinsam mit Matthew Teller, Juliette Touma und Jayyab Abusafia die rhetorische Frage, welche Rolle Schriftsteller:innen, Künstler:innen und andere Kreativschaffenden angesichts des Krieges in Gaza spielen sollen. Haben Sie bereits eine Antwort gefunden?
Mahmoud Muna: Ich glaube, dieses Buch ist die Antwort. Ich bin kein Arzt, kann also nicht im Krankenhaus dabei helfen, Leben zu retten. Ich bin Buchhändler. Wenn, wie im Moment, die politischen Entscheidungsträger:innen aller Nationen auf ganzer Linie versagen, sollten wir als Schriftsteller:innen und Intellektuelle unsere Plattformen nutzen. Wir sollten Bewusstsein schaffen, ein anderes Narrativ entwickeln, den Mainstream herausfordern und kontroverse Themen ansprechen. Das gilt nicht nur im Zusammenhang mit Israel und Palästina, sondern überall auf der Welt, insbesondere in Krisenzeiten.
Normalerweise braucht man für das Zusammenstellen, Redigieren und Drucken von so vielen Zeitzeug:innenberichten eine lange Zeit. Ihnen ist das in nur wenigen Monaten gelungen. Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Als der Krieg im Oktober 2023 ausbrach, bin ich die Namensliste in meinem Notizbuch durchgegangen und habe meine Freund:innen im Gazastreifen jeden Tag angerufen, um mich nach ihnen zu erkundigen. Im Dezember wurde es immer schwieriger, die Frage „Wie geht es dir?“ zu stellen und die Antworten wurden von Tag zu Tag kürzer. Daher ersetzte ich diese Frage durch „Erzähl mir mehr“. Ich wollte mehr über ihr Leben vor dem Krieg wissen, die Arbeit, ihr Lieblingsrestaurant oder das Lieblingsfitnessstudio.
Im Februar und März begannen der Journalist und Mitherausgeber Matthew Teller und ich, mit Menschen außerhalb unserer persönlichen Netzwerke in Kontakt zu treten. So sammelten wir die Geschichten von etwa 120 Personen – Künstler:innen, Ladenbesitzer:innen, Lehrer:innen, von ganz unterschiedlichen Menschen aus dem Gazastreifen. Ursprünglich sollte das Buch nur halb so dick werden. Dreimal mussten wir bei unserem Verlag – Saqi Books in Großbritannien – um zusätzliche Seiten bitten.
Wie haben Sie entschieden, welche Perspektiven Sie einbeziehen wollen, und wann hatten Sie das Gefühl, genug Material zusammengetragen zu haben?
Wir hatten uns eine Frist für August gesetzt – einerseits, weil das Buch um den erstens Jahrestag des Krieges erscheinen sollte. Andererseits hatten wir Angst, manche unserer Interviewpartner:innen zu verlieren – was dann leider auch passiert ist. Zunächst haben wir selbst so viel wie möglich zusammengetragen. Später entschieden wir uns, auch Auszüge aus bereits veröffentlichtem Material einzubeziehen, das bisher nicht genug Aufmerksamkeit gefunden hatte.
Das Buch ist in englischer Sprache erschienen und richtet sich an ein internationales Publikum. Wie würden Sie Ihr Anliegen beschreiben?
Dieses Buch versucht, die Geschichten aus Gaza menschlich begreifbar zu machen. Unser Ziel ist es, zu einem informierten Umgang mit dem Krieg und zu einem hoffentlich baldigen Waffenstillstand beizutragen. „Daybreak in Gaza“ bringt die Menschen genauso zum Weinen wie zum Lachen. Ein Buch über Hoffnung, aber auch über Wut und Schmerz. Es ist ein Aufruf zu Reformen und Veränderung und ein allgemeiner Appell, die Menschen in Gaza als normale Menschen anzuerkennen.
Ich möchte die Leser:innen ermutigen, Kontakt zu den Autor:innen aufzunehmen. Die meisten von ihnen sind noch am Leben, haben Social Media-Profile. Wenden Sie sich an sie, stellen Sie ihnen Fragen, schicken Sie ihnen Ihre Kommentare. Unsere Rolle als Herausgeber:innen ist mit der Veröffentlichung des Buches fast abgeschlossen. Aber es wäre wunderschön, wenn die Leser:innen den Austausch mit Menschen in Gaza aufrechterhalten würden.
Palästinensische Perspektiven
Das Kulturmagazin Fikra bietet Literatur und Kunst von Palästinensern aus aller Welt. Damit will die Redaktion der verstreuten Community eine Plattform zum Diskutieren und Träumen geben – und sich gegen Zensur von allen Seiten wehren.
Welche Geschichten haben Sie persönlich am meisten berührt?
Die Geschichte, die mich am meisten erschüttert, ist aus der Sicht des Kinderschutzbeauftragten Hossam al-Madhoun erzählt. In einem Auszug aus seinem Kriegstagebuch geht es um einen Jungen, der auf der Straße Geld damit verdient, dass sich Menschen für einen Schekel [0,25 Cent, Anm. der Redaktion] in einem Spiegel betrachten können.
Offenbar gibt es im Gazastreifen nicht mehr viele intakte Spiegel, weil die Menschen ständig auf der Flucht sind und viele von ihnen in Zelten leben. Es ist eine sehr eindringliche Geschichte, denn Spiegel ermöglichen uns, zu reflektieren, auch als Leser:innen dieser Geschichte metaphorisch selbst in den Spiegel zu schauen: Was machen wir hier eigentlich? Was können wir tun? Was ist unsere Haltung?
Und die zweite Geschichte?
Meiner Meinung nach ist die schönste Geschichte die von Izzeldin Bukhari. Sie spielt vor dem aktuellen Krieg und erzählt davon, wie er versucht, anlässlich der Hochzeit seiner Schwester eine Katze von Jerusalem nach Gaza zu transportieren. Dazu muss er am Checkpoint des Grenzübergangs Erez alle möglichen Torturen über sich ergehen lassen, zunächst durch israelische Soldat:innen und dann durch die Hamas auf der anderen Seite des Zauns.
Für mich bringt diese Geschichte den Kern von Besatzung und Unterdrückung zum Ausdruck, die sich durch alle Bereiche des menschlichen Daseins ziehen. Jedes Mal, wenn ich nach Europa reise, checken Passagier:innen ihre Katzen und Hunde am Flughafen ein, das ist völlig normal. Aber hier bei uns ist es eine große Sache, ein Haustier 90 Kilometer über die Grenze zu transportieren.
In Anbetracht der politischen Umstände waren Sie selbst noch nie in Gaza. Damit bleibt dieses kleine, aber umkämpfte Stück Land selbst für Sie als Palästinenser mehr ein Ort der Vorstellung als der eigenen Erfahrung. Gibt es etwas, das Sie beim Sammeln dieser Geschichten überrascht hat?
Die physische Distanz zu Gaza ist ein Nachteil, zumindest auf ästhetischer und emotionaler Ebene. Ich weiß nicht, wie sich Gaza anhört. Ich persönlich lebe in einer am Berg gelegenen Stadt und habe keine Ahnung, was das Meer für die Menschen in Gaza bedeutet. Unsere beiden weiteren Mitherausgeber:innen haben diese Lücken gefüllt: Juliette Touma ist Leiterin für Kommunikation bei UNRWA und war schon oft in Gaza, Jayyab Abusafia ist Journalistin aus Gaza und lebt heute in London.
Was ich unterschätzt habe, ist die Vielfalt der Menschen in Gaza. Ich habe die Bevölkerung des Gazastreifens immer in zwei Hauptkategorien eingeteilt – diejenigen, deren Familien ursprünglich aus dem Gazastreifen stammen, und diejenigen, deren Familien sich als Flüchtlinge dort niedergelassen haben. Ich wusste, dass in Gaza Christ:innen und Muslim:innen leben, aber dass es auch Unterkategorien gibt – zum Beispiel anhand von Klassenunterschieden – oder, dass es in Gaza Menschen mit afrikanischen Wurzeln und Armenier:innen gibt, das war mir nicht klar. Ich hoffe, es ist auch für die Leser:innen eine gelungene Überraschung.
Die menschliche Erfahrung greifbar zu machen, das ist auch die Aufgabe von Journalismus. Zu Kriegsbeginn beklagten Sie in einem Beitrag für London Review of Books, dass ausländische Journalist:innen in Ihren Laden kommen und Sie um Buch-Empfehlungen bitten, aber ihre journalistische Arbeit dann nicht gut machen. Hat sich die internationale Berichterstattung nach mehr als einem Jahr Krieg verbessert?
Das Gespräch unter den Journalist:innen, die ich kenne, ist offener geworden. Aber ich finde nicht, dass dafür erst mehr als 40.000 Palästinenser:innen hätten getötet werden müssen. Es ist eine Schande für uns als Menschheit. Dabei waren die Absichten der israelischen Führungsriege von Anfang an klar, es geht um einen langen, blutigen Rachefeldzug. Im Jahr 2024 würde man hoffen, dass die Welt in der Lage ist, drohende Verbrechen und Völkermord zu erkennen, bevor sie geschehen. Jetzt tun wir uns sogar schwer damit, sie als solche zu benennen, besonders in Ländern wie Deutschland.
Es scheint auch so, als hätten sich internationale Journalist:innen damit abgefunden, nicht von vor Ort, sondern von ihren Büros aus berichten zu müssen und sich dabei auf Presse-Briefings der Regierung zu verlassen. Nur wenigen internationalen Medien ist es gestattet aus Gaza zu berichten und das nur im Beisein der israelischen Armee. Dennoch scheint diese Situation als normal akzeptiert zu sein.
Wenn ich für einen Moment die internationale Journalistin sein darf, die Sie für all jene Qantara-Leser:innen um Rat fragt, die Ihren Buchladen in Ostjerusalem nicht selbst besuchen können: Welche Bücher empfehlen Sie, um die vielschichtige Geschichte des Gazastreifens und seiner Menschen besser zu verstehen – abgesehen von dem Werk, das Sie gerade herausgegeben haben?
Ich würde mit „Lights in Gaza“ beginnen, das von Jehad Abusalim und Jennifer Bing herausgegeben wurde und eine schöne Sammlung von Kurzgeschichten enthält. Dann würde ich „Drinking the Sea in Gaza“ von der erfahrenen israelischen Journalistin Amira Hass empfehlen, ein Klassiker, der die politischen Hintergründe beleuchtet.
Die Werke der Ökonomin und Wissenschaftlerin Sara Roy bieten einen kritischen Blick auf die Entwicklungszusammenarbeit, die in den letzten Jahren in Gaza geleistet wurde. „Gaza: Preparing for Dawn“ des Journalisten Donald Macintyre ist ebenfalls ein wichtiges Buch. Für diejenigen, die sich für die Hamas interessieren, empfehle ich das neue Buch von Tareq Baconi. Und für die tiefergehende Geschichte ist „Gaza: A History“ von Jean-Pierre Filiu die richtige Lektüre.
Daybreak in Gaza: Stories of Palestinian Lives and Culture
Herausgegeben von Mahmoud Muna und Matthew Teller mit Juliette Touma und Jayyab Abusafia
Saqi Verlag 2024
336 Seiten, £14.99
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