Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa
Navid Kermani hat in der deutschen Öffentlichkeit eine ganz außergewöhnliche Position inne. Er hat als deutscher Moslem mit iranischen Eltern die wohl subtilste Erläuterung des Islam für das deutsche Publikum vorgelegt („Gott ist schön", 1999). Kermani begleitete in vielen Zeitungsessays und Büchern den „religous turn" (Aleida Assmann), die Wiederkehr authentischer religiöser Standpunkte in den politischen und kulturellen Diskurs und die Neureflexion des Verhältnisses von Aufklärung und Religion. Und er erläuterte und kommentierte die Ausbreitung von religiös begründetem, terroristischem Fundamentalismus seit 2001 und die folgenden Kriege und Krisen.
Kermanis essayistisches Werk ist inspiriert von der deutschen und europäischen „Begegnungsgeschichte" mit islamischer Kultur. In Lessings Geist betont er Verbundenheit von Judentum, Christentum und Islam und verfolgt die Rezeption des Islam in der deutschen Literatur („Zwischen Koran und Kafka", 2015). Kermani hat zum Jahrestag der Grundgesetzverkündung im Bundestag eine vielbeachtete Rede gehalten, in der er in bester kritischer Tradition auf die Zeitgeschichte einging und einen Typus des muslimischen, deutschen Intellektuellen entwickelt und verkörpert. In Romanen und Erzählungen nimmt er Motive des Glaubens in säkularen Zeiten auf, widmet sich der erzählerischen Mystik und beleuchtet sein Leben und seine Arbeit als bundesdeutscher Intellektueller. Mit seiner Friedenspreisrede erregte er auch deshalb Erstaunen und Aufsehen, weil er das Publikum abschließend zum Aufstehen und gemeinsamen Beten aufforderte.
Seine große Reportage über den Flüchtlingstreck nach Europa ist zunächst 2015 im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel" erschienen und in leicht erweiterter Fassung in Buchform mit eindrucksvollen Fotografien des Magnum-Fotografen Moises Saman. Navid Kermani legt allen geisteswissenschaftliche Überbau beiseite und schafft einen einfachen wie ausdrucksvollen, unprätentiösen Reportagestil. Seiner Vorgänger in den Psychogrammen von Flüchtlingen, Joseph Roth, Bertolt Brecht oder Herta Müller, ist sich Kermani bewusst, aber er liefert eher ein Physiogramm, er beschreibt und überlässt die Konklusionen dem Leser. Ohne Pathos ganz beiseite zu lassen, wird sein Text nie kitschig. Solche Kategorien kommen weder Autor noch Leser auch gar nicht in den Sinn, die Schicksale der Flüchtlinge wiegen zu schwer.
Mehrfach bemerkt Kermani, dass die Europäer ebenso glücklich wie verwöhnt seien, weil sie bereits drei Generationen ohne Krieg leben. Er beschreibt in kleinsten, präzisen Exkursen die Situation in Deutschland, ohne zynisch zu sein, sieht die Fluchtpunkte der weiteren Entwicklungen jenseits der „Willkommenskultur", die kaum ein Jahr nach der Abfassung Realität sind: Abschottung Europas, ein Rechtsruck mit autoritären Ambitionen überall auf dem Kontinent und kaum mehr zählbare Angriffe auf Asylbewerberheime in Deutschland. Kermani wählt den Titel „Einbruch der Wirklichkeit" – und in den nüchternen, oft auch anrührenden Episoden zeichnet sich eine eigentümliche neue Epoche für den Europäer ab, auf die so viele intellektuell und moralisch nicht vorbereitet sind und viel zu oft neonationalen Rattenfängern hinterherlaufen: „Es herrscht Krieg an den südlichen und östlichen Grenzen unseres Wohlstandsghettos, und jeder einzelne Flüchtling ist dessen Bote: Sie sind der Einbruch der Wirklichkeit in unser Bewusstsein." Nur wenn Europa zusammenstehe, beschwört Kermani den Leser, könne die Situation in glimpfliche Bahnen gelenkt werden – nur wenige Monate später scheint dieser fromme Wunsch an dieser neuen Wirklichkeit zerbrochen.
Navid Kermani beschreibt genau beobachtend die vielen Helfer, in Deutschland, Griechenland und in der Türkei. Oft diagnostiziert er das Bedürfnis „gut zu sein, weil es gut tut". Er sieht viel Geschäftemacherei und kriminelles Schleppertum. Aber er beobachtet auch authentische Hilfsbereitschaft durch die lokale Bevölkerung wie durch die organisierten Helfer.
Die Bürger Europas befinden sich mitten in einer neuen, existentiellen Wirklichkeit. Navid Kermani hat einen bleibenden Text in einer flüchtigen Textgattung über einen Wendepunkt in der europäischen Geschichte geschrieben, ein uneitles und aufschlussreiches Beispiel der europäischen literarischen Humanität.