Ahmad al-Scharaa und der globale Dschihad

Der syrische Außenminister Asaad al-Schaibani betreibt intensive und geschickte Diplomatie. Er will die Organisation Hayat Tahrir al-Scham (HTS) beziehungsweise die aus ihren Mitgliedern bestehende syrische Übergangsregierung international etablieren.
Mit Erfolg: Im Mai schüttelte US-Präsident Donald Trump in Anwesenheit des saudischen Kronprinzen die Hand des syrischen Präsidenten Ahmad al-Scharaa und kündigte an, die Sanktionen gegen Syrien auszusetzen – was am 30. Juni auch geschah.
All dies wäre vor wenigen Jahren noch völlig undenkbar gewesen. Auf al-Scharaa – lange unter seinem Kampfnamen al-Dscholani bekannt – war als ehemaliger IS- und al-Qaida-Führer bis zur Machtübernahme ein Kopfgeld von 10 Millionen Dollar ausgesetzt.

Die Stunde Null in Syrien
Nach mehr als einem halben Jahrhundert stürzt das Regime der Assads. In die Freude über das Ende einer der brutalsten Diktaturen unserer Zeit mischt sich Sorge um die Zukunft des Landes. Wer sind die neuen Machthaber? Und gibt es in Syrien überhaupt noch „Gute“?
HTS ist heute zumindest offiziell aufgelöst und in die neu strukturierte Armee Syriens integriert. Ob man dem Wandel der ehemaligen Dschihadisten trauen kann und ob sie für das vielvölkische und religiöse Mosaik Syriens ein tolerantes Staatswesen schaffen werden – darüber wird viel spekuliert, vor allem in Syrien. Hier herrscht spätestens seit den tödlichen Übergriffen gegen Alawit:innen im März in der Küstenregion große Unsicherheit.
An diesen Verbrechen waren bisher wenig bekannte dschihadistische Gruppen beteiligt, aber auch Elemente innerhalb der HTS, die selbst eine Koalition verschiedener Gruppierungen ist. Alawit:innen werden seit Jahren durch dschihadistische Propagandaterminologie entmenschlicht: als Kuffar („Ungläubige“) oder Murtaddun („Abtrünnige vom Islam“) bezeichnet – Begriffe, die in der dschihadistischen Ideologie als Rechtfertigung für ihre Tötung dienen.
Gibt es einen „politischen Dschihadismus“?
Klar hingegen ist, dass die Machtübernahme al-Scharaas Signalwirkung für dschihadistische Gruppen weltweit hat – vermutlich noch mehr als die der Taliban in Afghanistan, da diese eine rein regionale Gruppierung sind. HTS hingegen ging aus al-Qaida hervor – einer Organisation mit globalen Zielen.
Die neue syrische Regierung zeigt also, dass eine Machtübernahme durch geschicktes politisches Agieren möglich ist – selbst nach zehn oder fünfzehn Jahren des Wartens. Ein Schlüsselereignis, das Dschihadisten von einem moderaten Pragmatismus überzeugen könnte.
Der Regimewechsel in Syrien stellt somit eine „positive“ Entwicklung innerhalb des Dschihadismus dar. Positiv deswegen, weil es dem Milizenführer al-Dscholani gelungen ist, eine nicht-religiöse Form von Legitimität aufzubauen. Der amerikanische Forscher Aaron Y. Zelin spricht in diesem Zusammenhang von „politischem Dschihadismus“.
Zum Erfolg trugen eine gewisse Toleranz, die Schaffung effizienter Verwaltungsstrukturen und die Berücksichtigung der Anliegen und Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung bei. Auch, dass er mit der Machtübernahme seinen bürgerlichen Namen Ahmad al-Scharaa wieder annahm, gehört zu dieser Strategie.

Jeder gegen jeden
Libyen, das ist ein politisches Chaos, das sich von außen kaum mehr verstehen lässt. Zwei Regierungen, eine im Westen und eine im Osten, kämpfen um die Macht. Selbst innerhalb der Machtblöcke gibt es militärische Auseinandersetzungen unterschiedlicher Milizen. Von Karim El-Gawhary
HTS ist nicht die erste dschihadistische Gruppe, die sich an politischen Prozessen beteiligt. Bereits Anfang der 2000er Jahre hatten sich libysche Dschihadisten offiziell von der Ideologie al-Qaidas distanziert und unter anderem Selbstmordanschläge sowie Gewalt gegen Zivilist:innen – einschließlich der Anschläge vom 11. September – verurteilt.
Sie trugen zum Sturz Gaddafis bei und sind heute Teil der komplizierten politischen Konstellation des Landes. Obwohl der IS zeitweise Sirte kontrollierte, ist Libyen kein zentraler Hotspot des Dschihadismus mehr. Der syrische Fall hat jedoch einen weitaus höheren Stellenwert, weil Syrien als historisch und geopolitisch wichtiger Staat tatsächlich von der ehemaligen HTS regiert wird.
Al-Scharaas Strahlkraft in der Sahelzone
In der Sahelzone, die ungefähr so groß ist wie alle EU-Staaten zusammen, leben mehr als eine halbe Milliarde Menschen. Sie gehören zu den ärmsten der Welt.
Der Sahel umfasst am Atlantik beginnend Mauretanien und den Senegal, gefolgt von Mali, dem Norden Burkina Fasos und dem tiefen Süden Algeriens, Niger, dem Norden Nigerias, dem Tschad im Zentrum und schließlich dem Sudan und Eritrea sowie Äthiopien am Roten Meer; auch Dschibuti und Teile Somalias werden von einigen Geograph:innen dazu gerechnet.
Der Dschihadismus breitet sich hier immer weiter aus. Die lokalen Gruppen beobachten die Lage in Syrien aufmerksam und könnten eine Kursänderung vornehmen – entweder in Richtung pragmatischer Moderation oder weiterer Radikalisierung.

Vom al-Qaida-Ableger in der Sahelzone, Jama'at Nusrat al-Islam wal-Muslimin (JNIM), gibt es zwar keine formelle Stellungnahme, aber großes Interesse für Syrien, betont Wassim Nasr, Sahel- und Syrien-Experte am Soufan Center in New York. Dies gelte besonders in Burkina Faso, Mali und dem Niger, wo die Gruppe bald größere Städte überrennen und islamische Emirate gründen könnte.
Laut Nasr stellen die al-Qaida-Verbündeten fest, „dass es eine politische und diplomatische Möglichkeit gibt, aus dem globalen Dschihad auszusteigen, internationale Anerkennung und Hilfe zu erhalten“. Zudem hätten sie genau beobachtet, wie HTS die Provinz Idlib effizient regierte und sich zumindest zu Beginn das Wohlwollen der dortigen Bevölkerung sicherte. In Mali hat JNIM in einem bemerkenswerten Schritt angeboten, mit anderen nicht-dschihadistischen Oppositionsgruppen eine Koalition einzugehen, um das Land gemeinsam zu regieren.
Der Sahel ist nicht Syrien – die Länder sind wesentlich ärmer und der Bildungsstand niedriger. Auch wenn die lokalen al-Qaida-Ableger von der Staatskunst der Syrer beeindruckt sind, stehen sie der Innenpolitik und Toleranz des al-Scharaa-Regimes, insbesondere in Sachen Frauenrechte, sehr skeptisch gegenüber.
Radikalisierung als Alternative zu HTS
Der Machtwechsel in Syrien kann dschihadistische Gruppen aber auch zu noch mehr Gewalt verleiten – etwa den Islamischen Staat in der Großen Sahara (ISGS). Dieser regionale IS-Ableger übt scharfe Kritik an der HTS-Herrschaft in Syrien.
Im offiziellen Newsletter al-Naba bezeichnete der IS die Mitglieder von HTS als „von Dschihadisten zu Politikern Gewandelte“ und wirft ihnen vor, ihre islamischen Ideale verraten und sich mit den Feinden des Islam verbündet zu haben. Der IS befürchtet zu Recht, dass das HTS-Modell die eigene brutale Terrorherrschaft delegitimieren könnte, und versucht sich deshalb als einzig wahre dschihadistische Gruppe darzustellen.
Der IS setzt wie im Irak 2003 gemäß der Maxime des einflussreichen IS-Strategen Abu Bakr Naji, Autor des Pamphlets „Die Verwaltung der Barbarei“, erneut auf totales Chaos und die Spaltung der Bevölkerung, um anschließend selbst die Macht zu übernehmen.
Diese Strategie kam am 22. Juni durch das erste große Selbstmordattentat unter HTS in Damaskus erneut grausam zu Tage. Bei dem Selbstmordanschlag auf eine Kirche starben 25 Menschen. Noch nicht abschließend geklärt ist bisher, ob die Terrorattacke vom IS selbst oder von der Gruppierung Saraya Ansar al-Sunna begangen wurde.

"Ich versuche, Dschihadisten zu verstehen"
Sie löchert IS-Kommandeure mit kritischen Fragen, trifft sich mit Dschihadisten, deren Kinder "Ungläubige töten" spielen. Im Interview mit Sabine Kieselbach berichtet die deutsche Journalistin Souad Mekhennet von ihren Begegnungen.
Die neuen Machthaber in Syrien werden zwischen verschiedenen Szenarien wählen müssen. Verfolgen sie eine „abgeschwächte“ Taliban-Variante, angepasst an die deutlich gebildetere syrische Gesellschaft? Wird die Organisation ein Modell nach dem Vorbild der Golfstaaten etablieren – in denen Ausländer:innen zwar willkommen sind, die Herrschaft jedoch teilweise islamistisch und autoritär bleibt? Oder wird Syrien ein Vorbild islamischer Toleranz?
Die Entwicklungen in Syrien werden in jedem Fall Auswirkungen auf die Zukunft des globalen Dschihadismus und Islamismus haben. Beide, auch das wird durch Ahmad al-Scharaa und seine Vergangenheit deutlich, sind keine statischen, monolithischen Blöcke. Zahlreiche Dschihadisten haben sich von den Schrecken der Terroranschläge des 11. Septembers oder dem Pseudo-Kalifat des Terrors im Irak und Syrien entfernt und könnten wohl zumindest zum Gewaltverzicht bewegt werden.
Ob dies so bleibt, hängt maßgeblich davon ab, ob das syrische Experiment gelingt – was wiederum entscheidend von der Unterstützung der EU und Deutschlands beim Wiederaufbau Syriens abhängen wird.
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