Die Eroberung Konstantinopels unter anderen Vorzeichen
Mit Produktionskosten von 17 Millionen Dollar ist "Die Eroberung von 1453" ("Fetih 1453") das teuerste Projekt der türkischen Filmgeschichte. Nach dem Start in den Istanbuler Kinos in der vergangenen Woche ist es auch das erfolgreichste Projekt.
Auf den ersten Blick fügt sich das mit einer prophetischen Überlieferung eröffnete und mit Märtyrerblut durchtränkte 165-Minuten-Werk von Faruk Aksoy in die Agenda des Neo-Osmanismus, das die regierenden "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) betreibt. Die Sponsoren, allen voran das von der AKP regierte Groß-Istanbul, haben sich die Botschaft gern gefallen lassen.
Die nationalreligiösen Historiker gaben Bestnoten, auch wenn sie wussten, dass der Film atemberaubende faktische Fehler enthält und die Chronogie der Ereignisse von der realen Geschichte abweicht.
Die Kommentatoren der in Glaubensdingen leidenschaftslosen Massenblätter feiern die jüngste Erzählung der Eroberung Konstantinopels indessen unter anderen Vorzeichen: Wir sind auf einem Niveau mit Hollywood, wir können jetzt auch große Historienfilme wie "Troja" produzieren.
"Ein bunter Abend auf Grundschulniveau"
Selbst in der liberalen Zeitung Radikal, der es auf die Nerven ging, dass alle Helden bei jeder Gelegenheit so sprachen, "als würden sie eine Rede halten", wurden dem Film "relativ erfolgreiche optische Effekte" bescheinigt. Nur der Kritiker der elitären Webseite kültürmafya hatte "einen bunten Abend auf Grundschulniveau" erlebt.
Der Kult um Sultan Mehmed II., der nach sechswöchiger Belagerung am 29. Mai 1453 die oströmische Hauptstadt einnahm, hat neunzig Jahre nach der Abschaffung der osmanischen Dynastie einen Höhepunkt erreicht. Im Film wird der damals achtzehnjährige Sultan von Devrim Evin verkörpert, einem Schauspieler jenseits der Vierzig, der dem Porträt des ausgemergelten Mehmed nahekommt, das Gentile Bellini im Jahr 1480 von ihm malte und das heute in der Londoner National Gallery hängt.
Die zweite, weit einprägsamere Hauptfigur, ist Ulubatli Hasan. Er gilt in der populären Überlieferung als ein Held, der am 29. Mai auf den Mauern das Martyrium erlitt, nachdem er den Janitscharen mit der Standarte den Weg zum Sieg gewiesen hatte. Das Drehbuch macht ihn zum Schwertkampf-Coach und Vertrauten des Sultans. Darüber hinaus übernimmt Hasan die Rolle des romantischen Liebhabers. Außerdem wird er gebraucht, um dem Kampf von Belagerten und Belagerern ein Gesicht zu geben. Hasans Gegner ist im Film Giustiniani, ein genuesischer condottiere, dessen Bogenschützen die einzig nennenswerte Verstärkung der Griechen aus dem Westen bildeten.
Die Rolle eines Überläufers aus Ungarn
Konstantinopels Befestigungen fielen nicht allein durch die Kraft des Gebets, das der Sultan vor dem riesigen Heer persönlich leitete. Ausschlaggebend war die - hier dramatisch geschilderte - Arbeit der Mineure und die Wirkung der Artillerie. Meister Urban, ein Überläufer aus Ungarn, dem die Osmanen den Guss gigantischer Kanonen verdankten, ist eine Schlüsselfigur.
Urban hat im Film eine Ziehtochter Era (Dilek Serbest), die er auf einem Sklavenmarkt erworben hatte, nachdem das junge Mädchen den drastisch geschilderten Überfall von Kreuzrittern in ihrem Dörfchen im Kosovo knapp überlebt hatte. Erst nachdem sie, als junger Geselle verkleidet, die richtige Mischung für den Kanonenguss findet, kann das Werk den Meister loben. Die Albanerin Era hat die Rolle der im türkischen Film oft vertretenen starken und klugen Frau inne, lässt sich die Werbung Hasans aber gerne gefallen.
Der Film nutzt Computeranimationen, vor allem, um hinter die Stadtmauern zu blicken. Schauplatz der diplomatischen Ränkespiele der Byzantiner ist ein historisches Legoland mit Kaiserpalast, Hagia Sophia und Hippodrom. Faruk Aksoy verlegt Beratungen über die politische Lage in eine Therme, in der Konstantin XI. mit drei Bikini-Mädchen herumplantscht. Will er die Verruchtheit der "Schlampe Byzanz" vorführen oder die Gemälde der orientalistischen Maler parodieren, die den Osmanenherrscher bei solchen Vergnügungen zeigten?
Die dreitägige Plünderung Konstantinopels durch das osmanische Heer wird am Ende nicht einmal angedeutet. Als man Mehmed den Leichnam Konstantins XI. zeigt, ordnet er stattdessen großmütig an, ihn nach den Regeln "seiner Religion" beizusetzen. Auf die in türkischen Darstellungen oft abgebildeten griechischen Jungfern, die den Eroberer mit Blumengewinden danken, weil er die Stadt vor der Union mit den Lateinern bewahrt hatte, verzichtete Faruk Aksoy. Sein Mehmed II. herzt dafür in der Hagia Sophia ein blondes Kind, das ihn zum Entzücken der umstehenden griechischen Frauen am Schnurrbart zupft.
Begeisterung für die Macht der Osmanen
Dass die Begeisterung für die Macht der Osmanen einhergeht mit einem nationalistischen Programm - das ist im Fall der Eroberung Konstantinopels eine moderne türkische Tradition. So besitzt Faruk Aksoys Film bemerkenswerte Vorgänger.
Im Jahr 1951 kam ein erster Schwarz-Weiß-Streifen über die Eroberung Istanbuls (Istanbul'un Fethi) in die Kinos und brach alle Kassenrekorde. Der mit diesem Film bekannt gewordene Regisseur Aydin Arakon (1918 bis 1982) bedankte sich im Vorspann beim Stadtkommandanten. Denn die türkische Armee hatte den Großteil der Statisterie gestellt. Die Fatih-Renaissance hatte auch in diesem Fall vorher eingesetzt, nämlich in den letzten Tagen Ismet Inönüs, des zweiten Präsidenten der türkischen Republik.
Eine Regierungsvorlage erlaubte damals die Öffnung der unter Atatürk versiegelten Mausoleen großer Männer, vorab die der Türbe Mehmeds II. Seitdem wird der Eroberungstag alljährlich mit einem großen Umzug begangen, der an die Überführung von Schiffen über Land in das Goldene Horn erinnert.
Seitdem gibt es den Neo-Osmanismus in der Türkei, wenngleich in wechselnden Funktionen. Eher sentimental geprägt war er in den künstlerischen Zirkeln um den Architekten Ekrem Hakki Ayverdi und dessen Gattin Samiha: Sie gründeten einen Verein zur Pflege des Andenkens an die Eroberung Istanbuls. Seinen Mitgliedern war der Laizismus und Modernisierungsfuror des Kemalismus ebenso suspekt wie der rassistische Türkismus.
Die "letzten Istanbuler"
Diese "letzten Istanbuler" unterschieden sich nicht nur durch ihre Bildung, sondern auch durch ihre Skepsis gegenüber der Moderne von den rabiaten anatolischen Neuerern. Und sie hatten erheblichen Einfluss auf die nachkemalistischen Generation. Ihre Ideen prägten noch den politisch selbstbewussten Islamismus der vergangenen Jahrzehnte.
Erst vor diesem Hintergrund erschließt sich, wie der 1993 im Amt gestorbene Präsident Turgut Özal den Osmanismus in der Außenpolitik benutzte. Er forderte, dass die Republik privilegierte Beziehungen zu den ex-osmanischen Staatsbürgern, die jetzt außerhalb der Grenzen des Landes lebten, unterhalten sollte. Darunter verstand er einen "Ring", der von Albanien über Bosnien, Makedonien, das Kosovo bis zum griechischen Westthrakien reichte. Bei den Kurden unterschied er zwischen jenen, die in Syrien und dem Irak lebten, also Ex-Untertanen waren und den "die Türken nicht weiter interessierenden" Kurden Irans.
Von einer Ausschlagung des osmanischen Erbes kann also, mit Ausnahme der Generation, die zwischen 1908 und 1939 geboren wurde, kaum die Rede sein. Die beiden Istanbul-Filme von 1951 und 2012 sind Glieder einer Kette nationaler historischer Erzählungen, die mit dem Goldenen Zeitalter der Osmanen einen zuweilen eher intellektuellen, zuweilen eher ästhetisierenden und zunehmend auch einen populistisch-hemdsärmeligen Umgang betreiben. Wobei durchaus auffällt, dass die Osmanen, die Konstantinopel im Jahr 2012 erobern, deutlich islamischer gesonnen sind als ihre Vorgänger.
Klaus Kreiser
© Süddeutsche Zeitung 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de