Warum in Syrien Frauen verschwinden

An einem Donnerstag im Februar fährt Sumaya*, eine 38-jährige Mutter dreier Kinder aus dem Umland von Hama, in eine staatliche Klinik, um ihre wöchentliche Behandlung gegen die Infektionskrankheit Leishmaniose zu erhalten. Es ist acht Uhr morgens, als sie wie üblich mit dem Bus zur Klinik fährt und dort auf ihre Spritze wartet.
Seither fehlt jede Spur von ihr.
„Die Mitarbeitenden sagten uns, sie sei nach der Behandlung gegangen, aber seitdem hat sie niemand mehr gesehen“, berichtet ihr Bruder im Gespräch mit Qantara. Noch am selben Tag meldet die Familie den Vorfall der Polizei. Doch dort heißt es, man könne erst 24 Stunden nach dem Verschwinden tätig werden. Ihr Bruder beginnt sofort, selbst in den Straßen nach Sumaya zu suchen – vergeblich.
Sumaya war nicht der erste Fall dieser Art. Weniger als zwei Monate nach dem Sturz von Baschar al-Assad war im Januar bereits Rasha al-Ali verschwunden, eine Professorin der Pädagogischen Hochschule in Homs.
Seither häufen sich Entführungen in Syriens Küstenregion sowie den Provinzen Homs und Hama. Die Zahl der Entführten wird auf Dutzende geschätzt. Genaue Zahlen liegen jedoch nicht vor, wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) gegenüber Qantara mitteilt.
Gesellschaftliches Stigma
Zwei Tage nach ihrem Verschwinden erhält Sumayas Familie eine WhatsApp-Nachricht von einer ausländischen Nummer. Ein Lösegeld in Höhe von 10.000 US-Dollar wird gefordert. Es folgen weitere Geldforderungen.
Fünf Tage später kommt eine Nachricht von einer Nummer aus einem arabischen Land, diesmal eine Sprachnachricht mit Sumayas Stimme. Vier Tage lang sei sie bewusstlos gewesen, berichtet Sumaya, nun gehe es ihr wieder gut. Sie sei mit einem Mann verheiratet worden, über den sie weiter nichts wisse.
In der Nachricht, von der Qantara eine Kopie erhalten hat, bittet Sumaya ihre Kinder, sich auf ihre Ausbildung zu konzentrieren. Sie werde nicht nach Hause zurückkehren. „Wir sind alle geschockt”, sagt ihr Bruder, „sie schien unter Druck zu stehen.“ Als die Familie die arabische Nummer zurückruft, meldet sich ein Mann im Dialekt des Landes, aus dem die Nummer stammt.
„Ich glaube aber, die Nummern sind gefälscht und die Entführer befinden sich innerhalb Syriens“, so Sumayas Bruder. „Wir sind sicher, dass sie entführt wurde, aber können nichts tun. Jedes Wort könnte ihr Leben kosten.“

Selbst ist die Frau
Viele Syrerinnen versuchen, finanziell unabhängig sein. Mit kreativen Projekten wie einer Werkstatt für traditionelle Handwerkskunst schenken sie einander Hoffnung und unterstützen sich gegenseitig. Vier Geschichten.
Diese Sorgen teilen viele Familien von Entführten. Zwar sind die sozialen Medien voll von Aufrufen, nach jungen Frauen zu suchen, die am helllichten Tag in der Nähe ihres Zuhauses oder Arbeitsplatzes entführt wurden. Doch andere Familien schweigen beharrlich – aus Angst vor gesellschaftlicher Stigmatisierung oder einer Gefährdung der Familie. Oft verhindert das eine ernsthafte Suche nach den Töchtern.
In einigen Fällen sind Frauen auch nach Hause zurückgekehrt. Jedoch wurden sie von Sicherheitskräften und Medien offenbar unter Druck gesetzt, zu leugnen, dass sie entführt wurden. „Meine Cousine kam nach zehn Tagen zurück”, berichtet der Verwandte einer Überlebenden gegenüber Qantara. „Aber die Behörden haben verlangt, dass sie ein Video aufnimmt und die Entführung leugnet. Aus Angst vor einem Skandal willigte sie ein.”
Das habe aber nicht verhindert, dass die Familie in sozialen Medien beleidigt und beschimpft wurde. Die Frau sei mit einem Mann unterwegs gewesen, habe es geheißen, und die Familie habe das genutzt, um Syriens neue Machthaber in Misskredit zu bringen.
Viele Rückkehrerinnen geben in Videos an, freiwillig in eine andere Provinz gereist zu seien, um Arbeit zu suchen oder eine Freundin zu treffen. Eine Minderjährige behauptete kürzlich, in eine andere Provinz gereist zu sein, um „ihre Familie aus ihrem früheren Leben zu sehen”. Dies trat eine Welle des Spotts über den Glauben der syrischen Alawit:innen los, die an eine Wiedergeburt der Seelen glauben.
In einem anderen Video war eine junge Frau im Moment ihrer Rückkehr zu sehen, die ihrem Bruder weinend zuflüsterte: „Sie haben mich vergewaltigt, Hassan.“ Später wurde sie stundenlang festgehalten und musste ein neues Video aufnehmen, in dem sie alles bestritt und behauptete, mit einer Freundin in Aleppo gewesen zu sein.
In anderen Fällen wurden Frauen hunderte Kilometer vom Ort des Verschwindens entfernt gefunden. Offizielle Erklärungen oder nennenswerte Ermittlungen gab es nicht. Eine diesbezügliche Nachfrage ließen die syrischen Behörden bis zur Veröffentlichung dieses Berichts unbeantwortet.
Angst vor verdunkelten Scheiben
Die Hintergründe der Entführungen seien unterschiedlich, erklärt SOHR-Direktor Rami Abdul Rahman gegenüber Qantara. Mal gehe es um Lösegeld, mal darum, alte Rechnungen zu begleichen, Bedingungen an bestimmte Parteien zu stellen oder auch Rache zu üben. Auch Männer seien entführt worden, so Abdul Rahman.
Dennoch haben sich insbesondere nach den Massakern in der syrischen Küstenregion im März die Fälle von entführten Frauen gehäuft, vor allem von Alawitinnen. Meist scheinen sie mit Zwangsheirat, Druck auf die Familien und der Begleichung alter Rechnungen in Verbindung zu stehen.
In einigen Dörfern und Städten an der syrischen Küste sowie in den Provinzen Hama und Homs ist Angst zum ständigen Begleiter vieler Frauen geworden. „Wir gehen nachts gar nicht mehr raus”, berichtet Maryam, eine Alawitin aus der Küstenstadt Dschableh. „Manche tragen einen Schleier, um sich vor Entführungen zu schützen”, erzählt sie, „dabei wissen wir, dass Entführungen alle Konfessionen treffen können. Als Alawitinnen sind wir aber zusätzlich bedroht. Die Angst hat uns alle im Griff, Frauen wie Männer.“
Heba, eine Lehrerin aus einem mehrheitlich alawitischen Stadtteil von Homs, sagt: „Die Entfernung zwischen meinem Zuhause und der Schule, an der ich arbeite, beträgt zehn Minuten zu Fuß. Obwohl ich fast 35 Jahre alt bin, muss ich meiner Familie Bescheid geben, sobald ich in der Schule ankomme.”
Wenn auf dem Arbeitsweg ein Auto mit unklarem Kennzeichen oder verdunkelten Scheiben vorbeifahre, male sie sich alle möglichen Entführungsszenarien aus. „Seit kurzem haben die Milizen in unserer Gegend Straßensperren errichtet. Sie kontrollieren nur die Ausweise von Frauen”, berichtet Heba weiter. „All das hält uns davon ab, das Haus zu verlassen, wenn es nicht unbedingt notwendig ist.“
„Kultureller Genozid“
Was Frauen in Homs, Hama und der Küstenregion erleben, könne nicht von anderen Formen der Gewalt getrennt betrachtet werden. Diese ziele auf den sozialen Zusammenhalt in der Region ab, sagt der syrische Wissenschaftler Sami Kayal. In der Küstenregion war es am 7. und 8. März zu Massakern gekommen, die von Amnesty International als „Massentötungen“ bezeichnet wurden.
Amnesty machte „Milizen, die der neuen syrischen Regierung nahestehen”, verantwortlich. Präsident Ahmed al-Scharaa rief eine Untersuchungskommission ins Leben und versprach, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, ohne jedoch selbst Schuld einzuräumen.
„Bei Entführungen, Zwangsheiraten und Religionswechsel sowie dem Zwang, Geschehenes zu leugnen, handelt es sich nicht nur um kriminelle Handlungen, sondern um systematische Instrumente zur Zerstörung der Sozialstruktur der alawitischen Gemeinschaft“, sagt Kayal.
In der Gewalt gegen Frauen sieht Kayal ein Mittel der Demütigung, das darüber hinaus aber auch zum Instrument eines „kulturellen Genozids“ werden könne. In einer patriarchalischen Struktur gelten Frauen ihm zufolge nicht als eigenständige Individuen, vielmehr ist die Verheiratung entführter Frauen ein Mittel, ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit zu negieren und ihnen Identität und Status zu nehmen.
Die Übergangsregierung macht Kayal direkt verantwortlich: „Es ist die Staatsmacht, die diese Verbrechen begeht”, sagt er. Rhetorisch verwende die neue Regierung das Argument des Zentralstaats und des Gewaltmonopols, um Andersdenkende zu delegitimieren. „Diese Rhetorik wird jedoch nicht einem Staat gerecht, sondern entspricht der Logik einer Koalition bewaffneter Gruppen.“
Die Milizen in Syrien würden „ihre Macht nutzen, um Frauen aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen und ihre Existenz als handelnde Subjekte zu zerstören“, so Kayal. Die Anhänger:innen der Regierung tragen für Kayal aufgrund ihres Schweigens und ihrer Doppelzüngigkeit eine Mitschuld: „Obwohl viele wissen, dass das, was den Alawit:innen angetan wird, ein Verbrechen ist, wiederholen sie das Narrativ der Regierung.” Dies verleihe ihnen ein Gefühl der Überlegenheit.
*Der Name wurde auf Wunsch der Gesprächspartnerin geändert.
Dieser Text ist eine bearbeitete und leicht gekürzte Version des arabischen Originals. Übersetzung von Jannis Hagmann.
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