Ein G10 Gipfel des Pragmatismus
Am Gipfel der Staats- und Regierungschefs des sogenannten 5+5 Formats in Marseille am 23. und 24. Juni 2019 nehmen die südeuropäischen Staaten Frankreich, Italien, Spanien, Malta und Portugal und die nordafrikanischen Staaten Tunesien, Marokko, Algerien, Libyen und Mauretanien teil.
Zusätzlich sind die Europäische Union und Deutschland eingeladen sowie internationale Geberorganisationen wie die Weltbank, die Europäische Investitionsbank (EIB), die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD). Auch die Union für das Mittelmeer (UfM) und die Anna-Lindh-Stiftung (ALF) sind mit dabei.
Aus der letzten größeren französischen Mittelmeerinitiative ging 2007/2008 die "Union für das Mittelmeer" (UfM) hervor, die außer einigen Ministertreffen und Dialogforen keine nennenswerten Ergebnisse hervorgebracht hat. Das möchte Macron nun ändern. Ziel seiner Initiative ist es, das bereits seit 1990 bestehende 5+5 Format für eine intensivere, praxis- und projektorientierte Zusammenarbeit in fünf Bereichen zu nutzen und mit dem inner circle der Mittelmeeranrainer eine Art "G10 Mittelmeer" zu gründen.
Idee des Mittelmeers als Region des transkulturellen Austauschs
Bislang ging es bei den 5+5 Gesprächen vor allem um Sicherheits- und Migrationsfragen. Nun soll verstärkt in Fragen der Energiepolitik, der Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit, der Jugend und Bildung, der Umwelt und nachhaltiger Entwicklung, sowie der Kultur, des Tourismus und der Medien kooperiert werden.
Zur Vorbereitung auf den Gipfel organisierten Algerien, Marokko, Malta, Italien und Frankreich jeweils ein thematisches Forum zu den genannten Bereichen, um bereits erste konkrete Projektvorschläge herauszufiltern. Diese wurden in Tunis am 11. und 12. Juni 2019 mit einem "Appell der 100" zivilgesellschaftlichen Persönlichkeiten zusammengetragen und während des Marseille-Gipfels präsentiert.
Positiv an der neuen Mittelmeerinitiative ist - zumindest auf den ersten Blick – deren multilateraler und inklusiver Ansatz: in populistisch-nationalistisch geprägten Zeiten, in den das Mittelmeer meist wieder nur als eine Grenze und als Burggraben der Festung Europa wahrgenommen wird, in dem Tausende Flüchtlinge den Tod finden, tut es gut zu sehen, dass die Idee des Mittelmeers als einer Region des transkulturellen Austauschs, der gemeinsam geteilten Geschichte und der gemeinsamen Herausforderungen und Zukunft noch nicht ganz gestorben ist.
Der Maghreb: Zukunftspartner auf Augenhöhe
So ist die Initiative auch vor dem Hintergrund der innenpolitischen Situation in Frankreich zu verstehen. Bei den Europawahlen erzielte der rechtsextreme "Rassemblement National" 23,3 Prozent. Deren rechter Abschottungsrhetorik setzt die Initiative bewusst ein versöhnlicheres Alternativkonzept entgegen, das den Maghreb nicht als eine Gefahr und Bedrohung für Europa darstellt, sondern als Zukunftspartner auf Augenhöhe und als Brückenregion zum afrikanischen Kontinent. Positiv hervorzuheben ist auch der Versuch, eine neue Dynamik in die stagnierende Mittelmeerkooperation der UfM zu bringen, die kaum konkrete Ergebnisse vorzuweisen hat.
Ungeachtet dessen verfolgt die EU stoisch ihre Politik der bilateralen Freihandelsabkommen im südlichen und östlichen Mittelmeerraum weiter, während die einzelnen EU-Mitgliedstaaten sich vor allem mit bilateralen Rückführungsabkommen beschäftigen.
Macrons Initiative versucht zumindest einige Lehren aus den erfolglosen Vorgängerinitiativen zu ziehen: der multilaterale Rahmen soll von uneffektiven, schwerfälligen 43 Staaten (EU28+15) auf potenziell entscheidungs- und handlungsfähigere G10 verkleinert werden. Durch die Fokussierung auf das westliche Mittelmeer werden der israelisch-palästinensische Konflikt und der Syrien-Konflikt außen vor gelassen, welche in der Vergangenheit viele Entscheidungen verzögert oder verhindert haben.
Auch die verstärkte Einbeziehung und "Ermächtigung" der Zivilgesellschaften ist zu befürworten. Anders als bei früheren Alleingängen hat Frankreich zur neuen Initiative im Vorfeld Sondierungsgespräche in Brüssel und Berlin geführt. Die Initiative kann auch als Analogie zur Ostseekooperation verstanden werden, in der sich die Ostseeanrainer seit 1992 unter Beteiligung Deutschlands und der EU zusammengeschlossen haben.
Kritische Aktivisten unerwünscht
Doch neben den genannten positiven Aspekten existieren auch kritische Einwände. So stellt sich die Frage, welches Verständnis von Zivilgesellschaft hier eigentlich zugrunde liegt und wie diese am weiteren Prozess beteiligt werden soll?
Die Teilnehmenden der fünf vorbereitenden Foren sowie des "Appell der 100" wurden "von oben", bzw. auf Empfehlung oder Zuruf durch die jeweiligen Regierungen benannt. Bestehende mediterrane Netzwerke unabhängiger, kritischer Aktivisten wurden kaum eingebunden. Mit dem Vorsitz des "Appel der 100" wurde die tunesische Unternehmerin und Nobelpreisträgerin Wided Bouchamaoui beauftragt, bis noch vor kurzem die langjährige Vorsitzende des tunesischen Arbeitgeberverbands UTICA.
Inwiefern diese 100 repräsentativ über die Anliegen, Probleme und Hoffnungen der nordafrikanischen Zivilgesellschaften sprechen können, sei dahingestellt. Der Fokus auf das westliche Mittelmeer macht einen "G10 Mittelmeer" zwar handlungsfähiger, lässt aber außer Acht, dass zentrale regionale Herausforderungen - wie Umweltbelastungen, Migration, Terrorismus - gemeinsam mit allen Mittelmeeranrainern angegangen werden müssen.
Problematisch ist der französische Vorstoß in dem Sinne als er an den bestehenden Formaten europäischer Mittelmeerpolitik – Union für das Mittelmeer (UfM), Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP), gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) – vorbeigeht bzw. diese auszuhebeln versucht.
Das wird aber nicht gelingen, da sich in Brüssel bereits Widerstand regt. Ähnliche Probleme gab es bereits, als Nicolas Sarkozy 2007 eine "Mittelmeer-Union" ohne einen Großteil der EU-Mitgliedstaaten gründen wollte. Nach dem Merkel-Sarkozy-Disput wurde damals der Kompromiss des "Barcelona Prozess: Union für das Mittelmeer" gefunden, woraufhin Entscheidungsgewalt und Finanzhoheit über die Mittelmeerpolitik letzten Endes in Brüssel blieben und die Rolle des UfM-Sekretariats in Barcelona auf die eines mittellosen Labelvergebers reduziert blieb.
Diese Lösung stößt bis heute auf Verbitterung und Unverständnis bei vielen französischen Beobachtern und Abgeordneten. Dass die UfM vor allem mit fehlenden gemeinsamen Zielen, Desinteresse und Uneinigkeit der (teilweise autokratisch regierten) 43 Mitglieder sowie dem veränderten politischen Kontext zu kämpfen hat, wird außer Acht gelassen.
Im Sinne einer "variablen Geometrie" europäischer Außenpolitik
Auch wenn die UfM und die EU zum Gipfel in Marseille eingeladen sind, so bleibt noch ungeklärt, wie sich ein "G10 Mittelmeer" innerhalb der UfM und ENP verorten lässt. Nicht nur die EU Kommission steht Macrons Initiative kritisch gegenüber; auch Berlin signalisiert keine neuen Institutionen oder Strukturen unterstützen zu wollen. Kanzlerin Merkel wird aber voraussichtlich am Gipfel in Marseille teilnehmen. Wie andere, nicht eingeladene, in der MENA-Region engagierte oder tangierte EU-Mitgliedstaaten (z.B. Schweden, Finnland, Griechenland) auf die Initiative reagieren werden, ist noch offen.
Der politische Kontext für Frankreichs neue Mittelmeerinitiative ist auch angesichts der aktuellen Entwicklungen in Libyen und Algerien nicht der einfachste. Im Sinne einer "variablen Geometrie" oder "verstärkten Zusammenarbeit" europäischer Außenpolitik ließe sich die Initiative vertreten, aber dann müsste es allen EU-Mitgliedstaaten freigestellt sein, ob sie bei einer Mittelmeer-Gruppe der Gleichgesinnten (like-minded) mitmachen möchten oder nicht.
In seiner jetzigen Form hat der vordergründig inklusive Ansatz eher einen stark ausschließenden Charakter gegenüber anderen EU-Mitgliedstaaten und gegenüber den übrigen UfM-Mitgliedern. Macron versteht sich als Reformer in Europa und will gleichzeitig Frankreichs Führungsrolle im Mittelmeerraum erneut behaupten.
Wenn er die Anderen, d.h. die kritischen euro-mediterranen Zivilgesellschaften, EU Kommission, gleichgesinnte EU-Mitgliedstaaten und die arabischen Regierungen aber nicht mitnimmt, wird es ihm kaum gelingen, seine Pläne nachhaltig umzusetzen. Die Konzeption besteht bislang vor allem darin, noch mehr neue interessante Projekte ausfindig zumachen, die maßgeblich von internationalen Gebern, der EU und Deutschland finanziert werden sollen.
Die bereits existierende Fülle an kurzfristigen Projekten und Programmen, die sich oft überschneiden oder gegenseitig konkurrieren, begrenzt oft deren Wirkung und Sichtbarkeit. Hier wäre vielmehr eine Bündelung, Priorisierung und transparente Auswahl sinnvoll. Grundsätzlich ist die Initiative überaus zu begrüßen, bislang ist sie jedoch nicht mehr als ein neuer Impuls.
Isabel Schäfer
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