Europa setzt auf die Falschen

In einer Menschenmenge protestieren Männer mit Talaren der Juristen.
Anwälte und Anwältinnen protestieren gegen die Verhaftung ihrer Kolleg:innen. Tunis, Mai 2024 (Foto: Picture Alliance / DeFodi Images | H. Mrad)

Zivilgesellschaftliche Organisationen in Westasien und Nordafrika sind mit weit verbreiteter Unterdrückung konfrontiert. Anstatt die Aktivist:innen vor Ort zu unterstützen, finanziert die europäische Politik jedoch weiterhin autokratische Regime.

Kommentar von Ilyas Saliba

14 Jahre nach den Aufständen von 2011 ist der erhoffte, umfassende demokratische Wandel in Westasien und Nordafrika (WANA) kaum erkennbar. Trotz der damaligen Regimewechsel in Tunesien, Ägypten, Libyen und im Jemen sowie in jüngerer Zeit in Algerien, Sudan und in Syrien, steht die gesamte Region nach wie vor unter autoritärer Herrschaft. In all diesen Jahren waren zivilgesellschaftliche Organisationen, wie Nichtregierungsorganisationen (NROs), Community-Organisationen und Protestbewegungen, zunehmend Überwachung und Verfolgung ausgesetzt. Ihre wichtige Arbeit hat das stark behindert. 

Unter Abdel Fattah al-Sisi gerieten in Ägypten zivilgesellschaftliche Organisationen (ZGOs) durch Gesetze wie das NRO-Gesetz von 2019 ins Visier. Dieses beschränkt die Arbeit der NROs offiziell auf „gesellschaftliche Entwicklung“ und verbietet de facto jede Arbeit zu politischen Themen wie Ungleichheit, Menschenrechte oder Umweltverschmutzung. Inzwischen sind Verleumdung, ungerechte Strafverfolgung und unrechtmäßige Inhaftierung von ZGO-Mitarbeiter:innen an der Tagesordnung. Im Jahr 2022 musste eine der führenden Organisationen des Landes, das Arabische Netzwerk für Menschenrechtsinformationen (ANHRI), aufgrund von Repressionen nach 18 Jahren ihre Arbeit einstellen

Ägypten illustriert einen breiteren regionalen Trend. Laut globalen Demokratieindizes ist die Region nach wie vor die autoritärste der Welt. Die Region zeigt die weltweit stärkste Unterdrückung von zivilgesellschaftlichen Organisationen, in Bezug auf die ZGO-Beteiligung an staatlicher Politik rangiert sie auf den letzten Plätzen. 

Selbst in den wenigen, eingeschränkten Demokratien der Region, wie im Irak, Libanon und Israel, wird der Raum für ZGOs aufgrund von Angriffen durch Strafverfolgungsbehörden, religiöse Akteure, zunehmenden Populismus und autoritäre Gesetzgebung stets kleiner. 

Seit den Aufständen von 2011 haben konterrevolutionäre Kräfte autoritäre Strukturen weiter verankert. Geberländer müssen ihre Anstrengungen verdoppeln, um unabhängige zivilgesellschaftliche Akteure bei ihrer Arbeit in einem repressiven Umfeld zu unterstützen und ihnen zu helfen, Angriffe durch die Behörden zu überstehen. 

Autoritäre Regime sind ungeeignete Partner

Die etablierten Regimeeliten in WANA sind größtenteils nicht zu Reformen bereit, die ihre Kontrolle über politische Institutionen, Politikgestaltung oder die Verteilung von Ressourcen verringern würde. Die europäischen Regierungen müssen erkennen, dass ihre aktuell regierungszentrierte Politik den autokratischen Status quo aufrechterhält. 

Anstatt Gruppen zu stärken, die Regime zur Rechenschaft ziehen könnten, konzentriert sich die europäische Politik vor allem auf die Stärkung der Exekutivorgane. Das Ziel ist dabei, öffentliche Dienstleistungen und den Grenzschutz zu verbessern. Begründet wird dieser Ansatz häufig mit Entwicklungszielen oder der Bekämpfung von Terrorismus und irregulärer Migration. 

Eine solche Politik gewährt autokratischen Regimen immer wieder Zugang zu Ressourcen und stützt dadurch korrupte Staatsapparate. Die Ausrüstung und Ausbildung von autoritären Sicherheitskräften fördern interne Unterdrückung und genau jene Migration, die Europa zu verhindern sucht. 

Jungen und Männer rennen geduckt eine Straße entlang.
Anhänger des abgesetzten Präsidenten Morsi fliehen 2015 nach einer Demonstration vor ägyptischen Sicherheitskräften. (Foto: Picture Alliance / AP Photo | B. Darder)

Europas Partnerschaft mit Tunesien verdeutlicht die unbeabsichtigten Folgen der europäischen Außen- und Entwicklungspolitik. Die populistische und fremdenfeindliche Rhetorik des tunesischen Präsidenten Kais Saied, gepaart mit dem Vorgehen der von Europa ausgebildeten und ausgerüsteten tunesischen Sicherheitskräfte, hat die Gewalt gegen schwarze Tunesier:innen und afrikanische Migrant:innen angeheizt. Es kam zur Abschiebung Hunderter von Migrant:innen an die libysche Grenze, wo sie unmenschlichen Bedingungen ausgesetzt sind. 

Auch in Ägypten hat die Repression unter Sisis Militärherrschaft zum stetigen Anstieg der Zahl jener geführt, die versuchen, Europa über gefährliche Seewege zu erreichen. Und dies trotz erheblicher europäischer Investitionen in ägyptische Grenzkontrollen. Die europäische Sicherheitszusammenarbeit hat es den Behörden vor Ort durch finanzielle Förderung, Ausrüstung und Ausbildung ermöglicht, die Kampagne gegen ZGOs auszuweiten. Die Folgen sind ein noch repressiveres Klima und ein Anstieg der Migration aus Ägypten. 

In Israel wurden mehrere palästinensische Menschenrechtsgruppen offiziell als terroristische Organisationen eingestuft, wodurch ihre Finanzierung oder öffentliche Unterstützung verboten sind. Die Behörden schließen die Büros, beschlagnahmen Vermögenswerte und verhaften Mitarbeiter:innen.

Neue Gesetze haben die Pressefreiheit in einem noch nie dagewesenen Ausmaß ausgehöhlt. Dennoch hat die EU auf der Tagung des Assoziationsrates EU-Israel im Februar erneut ihre Unterstützung für Israel bekräftigt und damit Forderungen nach einer Aussetzung des Assoziierungsabkommens aufgrund israelischer Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das Völkerrecht im Gazastreifen und darüber hinaus ignoriert. 

Diese Beispiele veranschaulichen, dass für jegliche kurzfristigen Ergebnisse einer solchen Zusammenarbeit ein hoher Preis bezahlt wird: die Verfestigung von Autoritarismus und anhaltende Menschenrechtsverletzungen. Sie stärkt repressive Sicherheitskräfte, untergräbt die Rechenschaftspflicht, verschärft Polarisierung und schürt politische Gewalt. Im Ergebnis steigen irreguläre Migration und Instabilität. 

Es gibt kein Schema F

Um zivilgesellschaftliche Organisationen in der Region zu unterstützen, müssten die europäischen Entscheidungsträger:innen die spezifischen Arbeitsbedingungen von Organisationen auf nationaler und regionaler Ebene verstehen. Unterstützung muss immer auf die örtlichen Gegebenheiten zugeschnitten werden. 

In sehr repressiven Kontexten ist es vielleicht lediglich möglich, den Organisationen defensive Unterstützung zu bieten, beispielsweise in Form eines Schutzes der Mitarbeiter:innen durch spezielle Visa- und Stipendienprogramme. Einige autoritäre Regime haben sogar nichtstaatliche Akteure kooptiert, darunter Gewerkschaften und religiöse Organisationen. Diese Organisationen können nicht länger als unabhängig angesehen werden, da sie gezwungen sind, mit autoritären Regimen Abkommen zu treffen. 

In diesem Fall sind lokale Kenntnisse der zivilgesellschaftlichen Landschaft und der Rolle staatlicher Vereinnahmung und Repression von entscheidender Bedeutung. Nur so können zivile Akteure identifiziert werden, die einen Unterschied machen können und nur so kann eine Finanzierung kooptierter Organisationen zu vermeiden.  

In liberaleren Staaten können Geberländer ehrgeizigere Unterstützungsstrategien verfolgen, die auf die Stärkung der Widerstandsfähigkeit von ZGOs abzielen. Zuweilen können Geber Finanzierungsbeschränkungen umgehen, indem sie beispielsweise Schwesterorganisationen und im Exil lebende Menschenrechtsaktivist:innen finanzieren. 

Sie können zivilgesellschaftliche Organisationen in der Region stärken, indem sie auf deren Berichte und Forderungen verweisen und ihnen auf Gipfeltreffen oder diplomatischen Zusammenkünften Plattformen bieten. 

Die Ursachen für die Aufstände des Arabischen Frühlings sind weder beseitigt noch verbessern sie sich. Die zugrundeliegenden sozialen und politischen Spannungen und langfristigen wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten haben sich für die meisten Bürgerinnen und Bürger der Region im letzten Jahrzehnt verschlimmert.  

Es ist daher nicht zu gewagt vorauszusagen, dass es in den nächsten Jahren zu weiteren Massenprotesten und häufig gewaltsamem Vorgehen der Regierungen kommen wird. Gleichzeitig werden sich wahrscheinlich auch Gelegenheiten für politischen und wirtschaftlichen Wandel auftun. Es ist von größter Bedeutung, dass die politischen Entscheidungsträger:innen in Europa zivilgesellschaftliche Akteure dabei unterstützen, sich auf solche Öffnungen vorzubereiten. 

 

Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des englischen Originals. Übersetzt von Annalena Heber. 

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